"Arons optimale Erlebnisse" hat der Maschinenbauingenieur Aron Ralston als Überschrift für seine Homepage gewählt. Im Untertitel ermutigt er den Leser: "Schaff dir deine eigene Realität." Nachfolgend listet der 27-Jährige Hobbybergsteiger seine Abenteuer und sämtliche von ihm bezwungenen Gipfel auf. Den Mount McKinley in Alaska, die Kordilleren in Peru und 45 der 59 Viertausender in Colorado, die er als erster Mensch im Alleingang im Winter bezwungen hat. Darunter fasst er seine Philosophie zusammen: "Das Leben ist leer und bedeutungslos. In der Leere schaffen wir Möglichkeiten für außergewöhnliche Ergebnisse."
Vermutlich hätte das nie jemanden sonderlich interessiert. Doch seit dem 1. Mai ist Aron Ralstons Webseite eine der meistangeklickten in ganz Amerika - zumindest in Bergsteigerkreisen. Denn Aron ist ihr neuer Held. Er ist der Mann, dem beim Klettern im Blue John Canyon im Süden von Utah ein Felsen gegen die Hand rollte. Fünf Tage war er eingeklemmt, ehe er sich befreiten konnte: Mit Hilfe eines Taschenmessers amputierte er sich den rechten Arm.
"Ich habe einfach weitergemacht"
"Ich weiß selbst nicht genau, wie ich das geschafft habe. Ich fühlte den Schmerz. Aber ich habe ihn überwunden und einfach weitergemacht", sagt der junge Mann mit den rotblonden Haaren, dessen verstümmelter rechter Unterarm inzwischen in einer blauen Schlinge hängt. Am Lederband um seinen Hals baumelt ein elfenbeinfarbener Reißzahn, sein Glücksbringer. Ralston lächelt, als sei der Verlust der Hand kaum der Rede wert: "Ich mach mir jetzt große Vorwürfe, vor der Klettertour niemandem Bescheid gesagt zu haben, wohin ich gehe und wann ich wieder zurück sein wollte. Sonst mache ich das immer. Das gehört zum Klettern wie der Sicherheitsgurt beim Autofahren."
Ralston hatte erst im vergangenen Frühjahr seinen Job als Maschinenbauingenieur bei Intel in Denver aufgegeben und war nach Aspen gezogen, um den Bergen näher zu sein. Mit Gelegenheitsjobs in einem Bergsteiger-Laden verdiente er sich gerade so viel Geld, wie er für seine Unternehmungen brauchte. Oft war er mit einer Gruppe unterwegs, im Bekanntenkreis "Die streunenden Hunde" genannt. "Er galt als der deutsche Schäferhund unserer Mannschaft: klug, stark und gut trainiert", sagen die Freunde. "Er hatte einen Schritt wie eine Giraffe. Selbst mit Schneeschuhen war er schneller als die meisten Leute beim Joggen."
Ein 400-Kilo-Koloss quetschte Ralstons rechte Hand
Sie waren besorgt, als er nicht wie verabredet zur Arbeit erschien. Ralstons Mutter knackte gemeinsam mit seinen Freunden Arons Computer. Anhand seiner E-Mails suchten sie herauszufinden, wohin er aufgebrochen sein könnte. Aber keiner wusste, dass ihn sein geplanter Drei-Tages-Trip nach Utah geführt hatte. Am ersten Tag war er auf den Mount Sopris gestiegen und auf Skiern abgefahren. Am zweiten Tag machte er mit dem Mountainbike den Slick Rock Trial in Moab. Am dritten Tag kletterte er zwei Meilen außerhalb des Canyonlands National Park eine fast senkrecht abfallende, teilweise nur einen Meter breite Schlucht hinauf. Ralston musste drei große Felsbrocken überwinden. Einer bewegte sich plötzlich. Der 400-Kilo-Koloss quetschte Ralstons rechte Hand gegen die Felswand.
"Man könnte 100 Bergsteiger in die gleiche Situation versetzen, und Aron wäre vermutlich der einzige, der da wieder herauskommt", sagt Ralstons Freund Tony Di Zinno, der mit ihm vergangenen Sommer auf dem Gipfel des Mount McKinley stand. Jetzt hing Ralston gefangen im Fels. "Ich habe mir in der ersten Stunde meine vier Alternativen überlegt", erzählt Ralston. Er hoffte auf jemanden, der ihn entdeckt. Er versuchte mit der Linken, den Fels zu bearbeiten, um seine Hand hervorziehen zu können. Dann wollte er mit Hilfe seiner Ausrüstung den Fels anheben. "Ich wusste: Wenn alles schief geht, muss ich meinen Arm opfern."
Amputation nach dem letzten Schokoriegel
Als Park-Ranger seinen verlassenen Wagen am Eingang des Canyon fanden, hing der Verunglückte bereits drei Tage in der Wand. Der kubikmetergroße Brocken ließ sich keinen Millimeter bewegen. Von Ralstons Proviant war nichts mehr übrig. Die vier Liter Wasser hatte er getrunken, die zwei Brote und die Schokoriegel gegessen. "Da habe ich mich für die Amputation entschieden", sagt Ralston. Er gibt zu, kurz die Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben, elend zu verrecken. "Wenn es passiert wäre, hätte ich mir gewünscht, dass meine Familie meine Asche über meinem Lieblingsberg verstreut", sagt er. "Aber dann habe ich an den Tod keine weiteren Gedanken verschwendet."
Ralston zückte sein Messer, ein billiges Leatherman-Imitat, eines, "wie man es als Dreingabe bekommt, wenn man eine 15-Dollar-Taschenlampe kauft". Es war so stumpf, dass der Bergsteiger damit zunächst nicht einmal seine Haut ritzen konnte. Einen Tag später machte er sich entschiedener ans Werk. "Da habe ich dann meinen Operationstisch vorbereitet", sagt Aron. Er bettete seinen Arm auf eine Radler-Hose, die als Polster dienen sollte. Dann legte er den Druckverband bereit, den er bei sich hatte. Abermals setzte er das Messer an - mit Erfolg.
Woher hat er den Mut genommen?
"Ich entwickelte eine Technik, Haut und Gewebe zu schneiden. Dann aber musste ich feststellen, dass ich die Knochen ohne Säge unmöglich durchtrennen konnte." Am fünften Tag war der Leidensdruck so groß, dass er zum Äußersten bereit war. "Ich schaffte es, mir erst die Speiche zu brechen und einige Minuten später die Elle. Dann nahm ich wieder das Messer, legte den Druckverband an und schritt zur Tat", sagt er. Das Ganze dauerte nicht mehr als eine Stunde. Woher hat er den Mut genommen? Wie konnte er die entsetzlichen Schmerzen so lange ertragen? "Auf diese Fragen weiß ich wirklich keine Antwort."
Einhändig seilte er sich 20 Meter ab, dann marschierte er zehn Kilometer talauswärts. Er war nur drei Kilometer von der nächsten Straße entfernt, als er zwei Wanderern in die Arme lief, die einen Rettungshubschrauber alarmierten. Der Pilot war beeindruckt von der Ruhe des vollkommen ausgehungerten, dehydrierten und immer noch blutenden Abenteurers.
"Hi, ich bin Aron", habe Ralston gesagt, "schaut ihr nach mir? Ich habe meinen Arm amputiert, könnt ihr mich in ein Krankenhaus bringen?" Im St. Mary's Hospital in Grand Junction haben die Ärzte Ralstons Knochen noch etwas verkürzt und Muskeln und Haut miteinander vernäht, um den Arm für eine Prothese zu präparieren. Der Patient wurde entlassen. Jetzt helfen ihm Psychologen, den Horror zu verarbeiten.
Ein Buch ist bereits im Entstehen
Aron Ralston hat jemanden engagiert, der seine Lebensgeschichte vermarkten soll. Ein Buch über sein Leben ist im Entstehen. Ein Film soll folgen. Zwar hat er das Vorhaben abgeblasen, den Mount McKinley in diesem Sommer in Rekordzeit zu besteigen.
"Wir hatten vor auszuprobieren, wie viele Viertausender man in 48 Stunden machen kann", sagt sein Freund Marshall Ulrich. "Aron macht nicht den Eindruck, dass er diesen Plan aufgeben will."