"Es war eine Reise ins Ungewisse. Der Mut, ein solches Risiko auf sich zu nehmen, muss enorm gewesen sein." Die zierliche Frau mit dem blonden Zopf und den grünen, freundlich blickenden Augen lächelt. "Sein Leben so in die Hand zu nehmen, das ist etwas ganz Besonderes, egal in welcher Epoche." Sie rückt ihre große, schwarze Ledertasche zurecht und guckt ernst: "In der Masse gehen die Individuen oft unter. Deshalb stand für uns das Schicksal der einzelnen Auswanderer im Vordergrund. Ihr Leben ist das wirklich Spannende."
Gelebte Geschichte
Dr. Simone Eick ist wissenschaftliche Leiterin des Auswanderungsmuseums Bremerhaven. In jahrelangen Recherchen und viel Arbeit ist es ihr und vielen anderen gelungen, eine ebenso authentische wie perfekte Illusion zu schaffen.
Das Ergebnis ist ein Erlebnismuseum, das dem Besucher Geschichte zum Anfassen und Mitfühlen bietet. Die Ausstellung ist breit gefächert: Angefangen bei den Gründen für das Verlassen der Heimat über Ahnenforschung bis hin zu praktischen Informationen für heutige Auswanderungswillige.
Ein letzter Abschiedsgruß
Als Simone Eick den Raum "Punkt des Abschieds" betritt, wirkt sie aufgeregt: "Wir haben uns einen düsteren Novembertag im späten 19. Jahrhundert vorgestellt. Verregnet und kalt". Tatsächlich dauert es eine Weile, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Drohend und turmhoch ragt die schwarze, stählerne Schiffswand aus dem Wasser empor. Langsam formen sich die dunklen Umrisse zu Gestalten. In kleinen Gruppen stehen sie dicht zusammengedrängt am Pier. Völlig verängstigt und im Ungewissen, was auf sie zukommt, warten die Auswanderer bis die Gangway freigegeben wird, und sie an Bord des Dampfers "Lahn" dürfen.
Verzückt vor Begeisterung mischt sich Simone Eick zwischen die lebensgroßen Puppen "Hier, der kleine Junge ist ganz nahe am Wasser, sein Vater springt besorgt zu ihm, um ihn festzuhalten" Schon dreht sie sich um: "Oder hier, diese Mutter putzt ihrem Kleinen die Nase. Ihr Mann, Ingenieur, wird Anfang der 50er Jahre von den Amerikanern abgeworben." Die Historikerin befindet sich in ihrem Element und erklärt erregt: "Wir wollten vom klassischen Handwerker bis zum Osteuropäer alle Auswanderergruppen darstellen, deshalb haben wir Kostüme von 1830 bis 1952 gewählt - surreal mit Absicht - sozusagen." Ein kalter Luftzug schickt dem Besucher eine Gänsehaut über den Rücken. Wie ein Schleier legt sich das nervöse Getuschel der Abreisenden über die Szenerie, selbst das leichte Schwanken des Ozeanriesen ist zu spüren. Die lebendige Atmosphäre der nachgestellten Alltagsszene im historischen Bremerhaven zieht die Besucher in ihren Bann.
Zwischen Angst und Hoffnung
Steil und wackelig führt die Gangway in das Zwischendeck des Seglers "Bremen". Ein langer, von Bullaugen gesäumter Gang bahnt sich durch das Schiffsinnere. Dr. Eick winkt und verschwindet in einer kleinen Seitentür.
Ächzend und stöhnend knarren die Holzplanken des Schiffs in der aufgewühlten See. Draußen heult Wind auf und jagt, wie die Katze nach ihrem Schwanz, wieder und wieder um das Schiff. Dennoch ist die Luft in der Koje zum Schneiden dick. An einer quer durch den engen, niedrigen Raum gespannten Leine hängen dicke Wollsocken und schwere Leinenunterwäsche. Simone Eick duckt sich und schiebt sich an der Wäsche vorbei. "So reiste die dritte Klasse Mitte des 19. Jahrhunderts. Fünf Leute teilten sich eine Koje. Jeder hatte nur 45 mal 170 Zentimeter zur Verfügung. Da das Wasser oft in Petroleumfässern lagerte, wurde es schnell brackig. Das Essen war eintönig. Morgens Getreidebrei, mittags Hering und sonst Speck und Kartoffeln." Und das sechs Wochen lang - Vitaminmangel, Typhus und Ruhr waren die Folge.
Unter vollen Segeln in die Vergangenheit
Auf die Frage, ob sie selbst auf so einem Schiff mitfahren würde, schüttelt die Historikerin energisch den Kopf: "Nein, im Leben nicht, das ist mir alles viel zu eng." Sie weiß wovon sie spricht: Bei der Segeldokumentation "8 Windstärken" war sie für die historische Genauigkeit des Projekts verantwortlich. 37 Leute gingen an Bord eines Seglers, um nachzuleben wie es Auswanderern um 1855 erging. Die Fahrt auf dem Topsegelschoner von Bremerhaven nach New York dauerte 67 Tage. "Es war ein Zusammenprallen von zwei Welten. Viele stießen während der Reise an ihre Grenzen." Kein Strom, kein fließend Wasser, dafür Zahnpulver, Kernseife, ein karger Speiseplan und schwere Kleidung aus Wolle und Leinen. "Nichts war gestellt."
Plötzlich schwankt der Boden: Keine Einbildung, sondern die "Wackelkabine" des Deutschen Auswandererhauses. Der Magen dreht sich um - Geschichte zum Mitfühlen bekommt eine ganz andere Bedeutung.
Aufbruch in die neue Welt
In den nächsten Räumen befinden sich zwei weitere, jeweils modernere Kabinentypen. Die Bremen wurde von dem Dampfschiff "Lahn", das ab 1887 von Bremerhaven ablegte, abgelöst. Anstelle von sechs Wochen benötigte sie nur noch acht bis 15 Tage für die Überfahrt und konnte 1200 Passagiere befördern. 1924 lief dann die "Columbus" vom Stapel. Im Gegensatz zur frühen "Bremen" war sie ein wahrer Luxuskahn. Sie fuhr ab 1929 bis 1974 und war wohl das berühmteste Auswandererschiff Bremerhavens. Die nachgebauten Kabinen sind maßstabsgetreu und mit viel Liebe fürs Detail ausgestattet.
Und doch sind es nicht allein die Exponate, die die Geschichte der Auswanderer erzählen. In liebevoller Kleinarbeit haben die Historiker des Museums, die Biographien der Emigranten zusammengesammelt. Auf die Frage nach ihrem Lieblingsort, leuchtet Simone Eicks Gesicht auf: "Die Galerie der sieben Millionen."
Eine unendliche Geschichte
Die Wände des Raums sind mit zahllosen kleinen hölzernen Schubladen bedeckt. Jede von ihnen ist mit einem glänzenden Messingschild versehen, auf der in verschnörkelter Schrift geschrieben ein Name und eine Jahreszahl stehen. Sie beherbergen eine Vielzahl von Schicksalen, stellvertretend für die sieben Millionen Europäer, die zwischen 1830 und 1974 über Bremerhaven ausgewandert sind. Pässe und Bürgschaften, Biografien, aber auch Tagebuchausschnitte liegen hier.
An insgesamt 15 Hörstationen können die Besucher in die Geschichte der Auswanderer aus fünf Epochen eintauchen. So beginnt hier die Spurensuche nach Individuen, die aus sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gründen auswanderten. In der Stimme der Historikerin schwingt eine gewisse Euphorie mit: "Manche Schicksale sind ganz leise und manche ganz knallig." Wie die Erfahrungen von Carl Laemmle, der 1884 als gerade 17-jähriger seine Reise nach Amerika antrat. 1905 begann sein rasanter Aufstieg vom Kinobesitzer zum Filmverleiher und Produzenten. 1909 gründete er eine Filmgesellschaft, die 1912 in "Universal Pictures" umbenannt wurde.
Simone Eick stellt einen der kleinen Holzhocker auf, platziert ihn in einer ruhigen Ecke und setzt sich. Die Sammlung vervollständigen, das könne man eigentlich gar nicht, aber wachsen solle sie dennoch. Es sei "eine unendliche Geschichte."
Vom Damals ins Heute
Dr. Eick betritt den "Raum der Nachfahren", hier liegen dicke Telefonbücher amerikanischer Staaten und Briefe der Nachfahren an ihre zurückgebliebenen Freunde und Verwandte in der alten Heimat. Vor einer Glasvitrine mit weißem Holzrahmen bleibt sie stehen: "Diesen Zaunpfahl haben wir aus Texas einfliegen lassen." An den Überresten des verwitterten Pfahls hängt eine Spule mit verrostetem Stacheldraht. Mit einer Spur von Stolz in der Stimme sagt sie. "Darum musste ich wirklich kämpfen. Meine Kollegen meinten, wir haben doch so schöne Fotos, doch ich wollte ihn unbedingt." Ein Einwanderer aus Bremerhaven, schlug den Holzpflock bei der Gründung seiner Ranch im 19. Jahrhundert in amerikanischen Boden.
"Zum Überleben brauchte man mindestens 12 Hektar Land, die gerodet und bepflanzt werden mussten." In den ersten achtzig Jahren des 19. Jahrhunderts waren es in Deutschland vor allem Arbeitslosigkeit und Missernten, die die Menschen zur Auswanderung trieben. Die Umstellung vom Agrar- zum Industriestaat vollzog sich - über Jahrzehnte - für viele zu langsam. Gruppen, wie die Leinweber seien beispielhaft dafür, dass Arbeitskräfte im Zuge der Industrialisierung von Maschinen ersetzt wurden und die Menschen auf der Strecke blieben. Mit Romantik hatte Auswandern nichts tun. Die Menschen waren fürchterlich ängstlich und voller Zweifel."
Abkürzungen und Ahnenforschung
Durch eine Seitentür, die Treppe eine Etage runter, kürzt die Historikerin den Weg zum Serviceforum Migration ab. Sie holt einen großen Schlüsselbund aus ihrer eckigen Handtasche und öffnet eine verschlossen Tür. Beim Betreten des türkisfarbenen, im Gegensatz zum Rest der Ausstellung fast steril wirkenden Raums verfliegt auch der letzte Gedanke an abenteuerliche vergangene Zeiten. Dieser Ausstellungsabschnitt ist mit Computer, Grafiken, Statistiken, vier parallel ausgestrahlten TV- Nachrichtenkanälen aus aller Welt und einer Beratungsstelle für Auswanderungsinteressierte ausgestattet.
"Deutsche sind Kartoffelfresser" steht in weißen Druckbuchstaben auf einem graugrünen Plastikschild. Dreht der Besucher das Schild um, kann er die Auflösung des Vorurteils lesen. Gegenüber stehen sechs Rechner und Datenbanken, die unter anderem die Bremerhavener Passagierlisten enthalten.
Auf die Frage nach der Ahnenforschung deutet Dr. Eick auf die Computer auf der anderen Seite des Raums: "Ja, wir bekommen viel Feedback. Es ist ein tolles Gefühl, wenn ein Besucher erfolgreich ist und jemanden aus seiner Verwandtschaft unter den Auswanderern entdeckt. Dann in ihre Gesichter zu gucken, das ist ein wirklich aufregend."
Auswanderung im Gestern und Jetzt
Mit dem "Serviceforum Migration" endet die Reise durch fast 150 Jahre gelebte Geschichte und mit ihr der Rundgang durch das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven.
Vor einer Grafik, die Daten über Emigranten enthält, bleibt Dr. Eick stehen. Heute, sei die Entscheidung für das Auswandern wesentlich einfacher - man sei viel mobiler. Die junge Frau guckt ernst: "Im Gegensatz zu heute waren die Menschen Mitte des 19. Jahrhunderts erdverwachsen, vor allem die Kleinbauern. Man brauchte all seine Kraft, um ganz von vorne anzufangen." Sie überlegt kurz. Heute seien es die strengeren Einwanderungsbeschränkungen die den Emigranten das Leben schwer machten.
Die Gründe für Auswanderung allerdings seien bis heute die gleichen geblieben - außer der Situation im Dritten Reich. Es sei der Moment, in dem die Wirtschaft darniederliege und "die Arbeitslosigkeit so steigt, dass man keine Zukunft im eigenen Land mehr sieht."