Dem Verfassungsschutz droht einer der schwersten Skandale seiner Geschichte: Eine Woche nachdem die Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) aufgeflogen ist, vernichtete das Bundesamt Akten über Spitzel im Umfeld der Killer. Die spannendsten Fragen: Haben die Schlapphüte etwas vertuscht? Und wer wusste wann davon?
Die Vorwürfe gegen das Bundesamt wurde Stunden vor der Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses am Donnerstag im Bundestag bekannt. Die Aktenvernichtung begründete der Verfassungsschutz nach Angaben aus Parlamentskreisen zunächst mit Datenschutzvorgaben. Die Fristen zur Aufbewahrung seien abgelaufen. Als man die verstaubten Akten nach dem Auffliegen der Neonazi-Mordserie mit zehn Opfern wieder angefasst habe, habe sich der Verfassungsschutz an das Gesetz halten müssen. Daraus folgte: Ab in den Schredder. Die Dokumente wurden am 11. November 2011 vernichtet.
Rekonstruktion des Hergangs
Einen Tag zuvor wusste das Bundesamt für Verfassungsschutz schon, dass die beiden Toten im Wohnmobil in Eisenach etwas mit der ungelösten Mordserie zu tun haben. Bei den Leichen wurde eine Tatwaffe entdeckt. Schnell war den Ermittlern klar, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos waren bekannte, jahrelang gesuchte Neonazis. Der Verfassungsschutz flöhte sofort seine Akten nach Spuren zur NSU.
Dabei stieß ein Referatsleiter in der für Rechtsextremismus zuständigen Abteilung des Amtes unter anderem auf sieben Aktenordner zur "Operation Rennsteig". Das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Thüringer Verfassungsschutz bezahlten von 1997 bis 2003 alleine acht V-Leute aus dem Umfeld des Thüringer Heimatschutzes für Informationen aus der braunen Szene. Der Verfassungsschützer sichtete zusammen mit Kollegen die Dokumente und entschied noch am gleichen Tag, sie dem Reißwolf zu überlassen. Zum Zwickauer Trio sei darin nichts zu finden, die Frist zur gesetzlich normalerweise erlaubten maximalen Aufbewahrung von zehn Jahren sei verstrichen.
Ein fataler Fehler oder Vertuschung?
Ein Beamter, der Datenschutz auch am 11. November, also an den närrischen Tagen, ernstnimmt? Wohl kaum. Denn die Namen von Mundlos und Böhnhardt stehen sehr wohl in den Akten. Der Militärische Abschirmdienst hatte sie auf eine Liste von 73 Männern im wehrpflichtrelevanten Alter gesetzt. Die acht Staatsspitzel wurden letztlich aus einer Liste von 35 Kandidaten rekrutiert, auf der Mundlos und Böhnhardt und auch Beate Zschäpe, die dritte im Bunde, nicht mehr gestanden haben. So heißt es aus dem Geheimdienstapparat. Ist das glaubhaft?
Der Mann, der die Dienstanweisung zur Vernichtung der Papiere gab, log bis Mittwoch Vorgesetzte an, bis hin zum Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm. Angeblich seien die Akten mit Bezug zu den Wurzeln der NSU-Killer in Thüringen im Januar 2011 vernichtet worden. An dieser Version hielt der Beamte bis Mittwoch fest.
Jetzt wird gegen ihn intern ermittelt. Ob er einen Blackout, etwas zu verbergen hatte oder vielleicht schon gedanklich im Karneval war, das ist zu klären. Die Spitze des Bundesamts mit Sitze in Köln gibt sich zerknirscht, ist zu hören. "Stinksauer" sei man über das Verhalten des lang gedienten Referatleiters.
Präsident des Verfassungsschutzes im Zeugenstand
Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) ist auch nicht begeistert. Er dringt auf rasche Aufklärung der Affäre. Er forderte den Präsidenten des Bundesamts auf, "diesen Vorfall lückenlos aufzuklären und mir so rasch wie möglich zu berichten". Ihm bleiben nur wenige Tage Zeit. Fromm ist für nächste Woche als Zeuge vor den NSU-Untersuchungsausschuss eingeladen. Fragen dürften dann lauten: Warum gelang es einem Mitarbeiter, ihn monatelang über die Löschung potentiell wichtiger Akten zu täuschen? Gab es ein Fehlverhalten, dass vertuscht werden sollte? Gab es vielleicht doch einen Kontakt des Bundesamtes zu den drei Neonazis?
Man muss nicht an Verschwörungen glauben oder gar an ein Staatskomplott. Aber die Sache passt in das Bild des Totalversagens von Polizei und Geheimdiensten bei der Suche nach den Killern. Der Verfassungsschutz hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Und das sollte er schnellstens lösen. Bevor die Bürger nach der Fußballeuphorie und dem EU-Gipfel wieder stärker ihren Blick auf die Aufklärung der Nazi-Mordserie richten.