Einen großen Erfolg hat Graz als Kulturhauptstadt Europas bei der Eröffnungspremiere mit Beat Furrers Musiktheater «Begehren» am Donnerstagabend gefeiert. Der Applaus des Premierenpublikums bei der Uraufführung galt gleichermaßen dem Komponisten wie den Musikern des «ensemble recherche» und dem Vokalensemble Nova mit den Solisten Petra Hoffmann und Johann Leutgeb.
Der Schweizer Komponist Furrer interpretiert in dem Werk den Mythos von Orpheus und Eurydike in einer zeitgenössischen Tonsprache. Mit einem auf Lichtelemente und abstrakte Formen reduzierten Bühnenbild unterstreicht die Architektin Zaha Hadid die Zeitlosigkeit des Mythos. Reinhild Hofmann als Regisseurin setzt die Motive der Komposition mit einem Tänzer-Ensemble in fließende Bilder um.
Die szenische Uraufführung von «Begehren» ist in Zusammenarbeit mit dem Avantgarde-Festival «steirischer herbst» entstanden und wird im September diesen Jahres bei der Ruhr-Triennale, dem deutschen Partner der Koproduktion, gezeigt.
Hauptstadt der Steiermark
Mit 250 000 Einwohnern, darunter 60 000 Studenten, ist Graz die zweitgrößte Stadt Österreichs. Viele kennen die Hauptstadt der Steiermark als Zentrum für Handel, Verwaltung, Bildung und Kunst. Im Tourismus gilt Graz als Insider-Tip, obwohl es statistisch 318 Sonnentage im Jahr hat und das südsteirische Weinland eine reizvolle Landschaft bietet.
Das Stadtbild bestimmt der Schlossberg, der sich mit dem Uhrturm als Wahrzeichen am linken Ufer der Mur über Fluss und Stadt erhebt. In der historischen Architektur ist der kulturelle Einfluss des benachbarten Ungarn und Slowenien, auch Italiens unübersehbar. Der gotische Stadtkern mit seinen engen Gassen und Renaissance-Bauwerken sowie das Landhaus mit seinem Arkaden-Innenhof zeugen von der Bedeutung der Stadt als Residenz der Habsburger für Inner-Österreich. Das Landeszeughaus birgt die größte historische Waffensammlung der Welt. Teile der Innenstadt, die als vollständige Ensembles erhalten sind, gehören seit Ende 1999 zum Weltkulturerbe.
Unter den Nationalsozialisten als Bollwerk gegen den slawischen Südosten zur «Stadt der Volkserhebung» ausgerufen, zu Zeiten des Kalten Krieges an den Rand Europas gedrängt, profitiert Graz heute wieder zunehmend von seiner geopolitischen Lage am Schnittpunkt verschiedener Nationalitäten und Kulturen: Nach Ungarn sind es 70 Kilometer, nach Slowenien 40. Neben der Landwirtschaft hat sich seit dem 19. Jahrhundert Industrie, vorrangig Maschinen- und Stahlbau sowie später die Autobranche, angesiedelt.
In den 60er und 70er Jahren hat sich Graz zu einer Keimzelle der österreichischen Avantgarde entwickelt. Das Forum Stadtpark, die Grazer Autorenversammlung, schließlich das interdisziplinäre Festival steirischer herbst standen für einen Aufbruch in der Gegenwartskunst. Großen Anteil an dieser Bewegung hatten Schriftsteller wie Werner Schwab und Wolfgang Bauer sowie Alfred Kolleritsch, Mitbegründer und bis heute Herausgeber der Literaturzeitschrift «manuskripte». Den literarischen Ruf seiner Heimatstadt hat in diesem Jahr Peter Glaser als Gewinner des Ingeborg-Bachmann-Preises bestätigt.
Zukunftsvisionen auf historischem Boden
Graz gibt sich als Kulturhauptstadt Europas 2003 ein markantes Profil: Der Uhrturm, das Wahrzeichen der österreichischen Stadt, erhält einen Zwilling aus Stahl, neben der Mariensäule ist ein gläserner Liftturm gewachsen und mitten im Fluss Mur liegt eine künstliche Insel. In der Stadt mit ihren weitläufigen Palais, Arkadenhöfen aus der Renaissance-Zeit und der verwinkelten Dachlandschaft irritieren metaphorische Installationen und entstehen Neubauten in spektakulärer Architektur.
Intendant Wolfgang Lorenz gibt sich unbescheiden in seinen Vorhaben und deklariert Kultur zum «unverzichtbaren Lebensmittel». Das heißt für den 58-Jährigen, den Schwerpunkt auf Kunst im öffentlichen Raum zu legen und auf bleibende, meist architektonische Projekte. So wird mit der Eröffnungs-Premiere am 9. Januar, Beat Furrers Musiktheater «Begehren», auch die neue Helmut-List-Halle, ein Industriebau aus dem 19. Jahrhundert, als Veranstaltungsort in Betrieb genommen.
Am rechten Mur-Ufer schwebt das künftige Kunsthaus, das im Herbst eröffnet werden soll, in Form einer riesigen Luftblase noch als Rohbau auf Betonstützen. Von den Londoner Architekten Peter Cook und Colin Fournier als «Friendly Alien» betitelt, hat der Bau im Volksmund den Namen «Blaue Blase» erhalten. Die neu gestaltete Mur- Promenade ist bereits begehbar, und in der Flussmitte liegt die künstliche Insel des amerikanischen Künstlers Vito Acconci, die künftig als Caféhaus, Kinderspielplatz und Bühne dienen soll.
Neben international bekannten Stars der Architektur- und Kunstszene wurden auch junge heimische Künstler für Projekte eingeladen. Unter dem Slogan «Ankommen in Graz» wurden so die Autobahn-Einfahrten, der Bahnhof und der Flughafen künstlerisch neu gestaltet. Um dem deklarierten sozialpolitischen Anspruch gerecht zu werden, ist eine Vielzahl der 103 Projekte in Zusammenarbeit mit Initiativen vor Ort entstanden, mit entwicklungspolitischen Gruppen, caritativen Organisationen oder Forschungsinstitutionen wie dem «Büro für Entwicklung und Frieden».
Ein neuer Blick auf die Geschichte der Stadt öffnet sich so in einer Ausstellung im Stollen des Schlossbergs, der zum «Berg der Erinnerung» wird: Die Lebenserinnerungen der Grazer wurden hierzu gesammelt, ausgewertet und ermöglichen zusammen mit Fotografien und persönlichen Gegenständen eine alltagsgeschichtliche Erkundung. Für Obdachlose wird ein Containerdorf entstehen. Als spektakuläres Zeichen der Integration gesellschaftlicher Randexistenzen holt Graz im Juli die Weltmeisterschaft der Obdachlosen-Fußballverbände in die Steiermark.
Die vorhandenen Festivals der Stadt, das österreichische Filmfestival «Diagonale», das vom Dirigenten Nikolaus Harnoncourt geleitete Musikfest «Styriarte» und das Avantgarde-Festival «steirischer herbst» dehnen im Rahmen des Kulturjahres ihr Programm zeitlich wie inhaltlich aus. Jenseits dieser Projekte locken Uraufführungen von Henning Mankell oder Anselm Glück im Theater, von Beat Furrer im Bereich Musiktheater und internationale Koproduktionen am Opernhaus.
Konkurrenzlos im Mittelpunkt
Im Unterschied zu den vergangenen Jahren, als sich jeweils zwei oder mehr Städte den Titel der Kulturhauptstadt teilen mussten, steht Graz 2003 konkurrenzlos im Mittelpunkt europäischen Kulturinteresses. Diese Ehre will die Stadt auch in touristisches Kapital ummünzen und ein wenig aus ihrem Schattendasein treten. Die Lage der 250 000 Einwohner-Stadt im Südosten Österreichs haben die Touristenströme bislang an der steirischen Hauptstadt etwas vorbeigelenkt. Dabei geraten Graz-Entdecker über das milde Klima, die reizvolle Landschaft und das südliche Flair in der spätmittelalterlichen, später barockisierten Innenstadt gerne ins Schwärmen.