Martyn Tott war einmal das, was man im englischsprachigen Raum einen "Loser" nennt. Er war ein "Verlierer". Das Paradoxe: Er hatte gewonnen. Und zwar richtig viel Geld. Trotzdem gingen Tott und seine Frau über viele Monate als "das unglücklichste Paar Großbritanniens" durch die Presse. Fotos und Filmaufnahmen unterstreichen das: Sie zeigen die Beiden gezeichnet von Traurigkeit und Kummer.
Es war im Jahr 2001, als die Eheleute zu fragwürdigem Ruhm gelangten. Damals gewannen sie in der Lotterie etwas mehr als drei Millionen Pfund, was nach heutigem Kurs ungefähr 3,7 Millionen Euro wären. Das Problem: Das Paar hatte den Lottoschein versiebt. Und obwohl es via Computer nachweisen konnte, Besitzer des Glück verheißenden Zettels zu sein, wurde ihnen die Gewinnauszahlung verweigert. Nicht einmal die Fürsprache des damaligen Premiers Tony Blair half. Denn die Regel der britischen Lotterie besagt: Der Eigentümer muss den Verlust binnen 30 Tagen melden. Das hatten die unglücklichen Glückspilze nicht gewusst. Der Veranstalter stellte eine Ausnahme in Aussicht, um Wochen nach Ende der Einlösefrist zu verkünden: kein Geld.
Die Totts klagten - vergeblich. Ihr Leben geriet durcheinander. Sie stritten über die Verantwortung für den Verlust des Tickets zum Reichtum. Martyn Tott ließ sich mit wütendem Gesicht und Lottoscheine zerreißend vor einem Jaguar fotografieren, den er gerne gekauft hätte, wenn... Er trank Whiskey in nicht geringen Mengen und verfiel in Depression. Das Paar trennte sich, später ging der Unglücksrabe in die USA und fand Trost bei einer Art christlicher Sekte, deren "Apostel" ihm sagte, sein Schicksal sei, kein Millionär zu werden. Inzwischen hat Tott all das hinter sich gelassen. Er lebt wieder in seiner Heimat, dreht Werbefilme und schreibt Bücher.
Sein Werk "Six Magic Numbers" (Sechs zauberhafte Nummern) umschreibt er - typisch britisch - als "inspiriert von einer Periode meines Lebens". Rezensenten bei Amazon.uk loben es als Wegweiser für ein Dasein ohne viel Geld: "Das Leben ist, was du daraus machst."
"Vermissen Sie 63,8 Millionen Pfund?"
Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass es einen Landsmann Totts gibt, der das Buch bald lesen sollte oder gar muss, um mit seinem Schicksal klar zu kommen. "Are You Missing £63,8 Million?", fragte die National Lottery in landesweiten Anzeigen und auf ihrer Homepage. Exakt bis Mittwochabend, 23.00 Uhr. Dann nämlich lief die Meldefrist für denjenigen aus, der 63,8 Millionen Britische Pfund (78,5 Millionen Euro) "vermisst". Doch der Superreiche in spe, der die Ziffern 5, 11, 22, 34, 40 und die "Lucky Stars" 9 und 11 als seine Glücksziffern benannt hatte, machte den Gewinn nicht geltend. Die britische Lotterie erklärte nach 23.00 Uhr auf ihrer Website unmissverständlich: "Die Frist für die Beanspruchung des EuroMillions-Jackpots von £63,837,543.60 von der Ziehung am 8. Juni 2012 ist gerade abgelaufen." Es ist der höchste Lottogewinn auf der Insel, den der rechtmäßige Besitzer nicht ausgezahlt bekommt, weil er ihn nicht (oder zu spät) für sich reklamiert hat. Eine Sprecherin bestätigte der BBC, dass sich "bedauerlicherweise" niemand pünktlich gemeldet habe und "leider diesen gigantischen Geldbetrag verpasst".
Seit Tagen diskutiert das Land zwei Fragen: 1. Wer ist so verrückt und lässt sich solch einen Millionenbetrag entgehen? 2. Ist der Besitzer des Scheins tot? In den Tagen bis zum Ende der Deadline war die Gegend um Stevenage und Hitchin - etwa eine Autostunde nördlich von London - voller "Schatzsucher". Dort war der Gewinnschein erworben worden. Jeder hoffte, ihn zu finden. Bewohner der Region beantworten die zwei Fragen in einer kombinierten Antwort: Der Besitzer muss tot sein. Denn so verrückt ist niemand, auf ein Leben in Saus und Braus zu verzichten. Die Lottogesellschaft hat jedenfalls nach Worten ihres Chefs Andy Duncan in den vergangenen sechs Wochen ihr Bestmögliches getan, den Gewinner zu ermitteln.
Überraschend viele behaupteten, den Zettel mit den richtigen Zahlen gekauft, aber blöderweise verbummelt zu haben. "Eine Million Leute haben plötzlich ihr Ticket verloren", zitierte der "Independent" den 22-jährigen Alan Edwards. Aber niemand fand den Schein. Auch nicht der 32-jährige Landschaftsgärtner Pete James, der für den tragischen Verlust des Gewinns seinen Hang zur Sauberkeit verantwortlich macht. "Ich bin sicher, es war meiner." Er habe mehrere Scheine in seinem Auto abgelegt, die "alle" beim Reinigen des Fahrzeugs rausgeflogen seien, "bevor ich sie prüfen konnte". Und: "Ich hatte auch welche in der Tasche meiner Arbeitsjeans, die in die Wäsche ging." Dabei hatte der Mann schon konkrete Pläne: "Mit 64 Millionen Pfund würde ich irgendwohin gehen, wo es heißes Wetter und glamouröse Frauen gibt." Das wird wohl vorerst nichts.
Die Lotteriegesellschaft hält Trost bereit: "Es gibt trotzdem einen Gewinner - die Nation." Das Geld fließt an öffentliche Projekte, zum Beispiel für Behinderte. Und schließlich schaffte es auch Martyn Tott, den Millionenverlust zu verschmerzen. Als Autor verdiene er zwar keine Millionen, sagte er der "Daily Mail". "Aber mein Lotterie-Martyrium gab mir den Antrieb, meinen Traum vom Schreiben zu verfolgen."