Hinweis: Dieser Text erschien erstmals am 7. Oktober 2017. Aus Anlass der NDR-Dokumentation "Eiskalte Spur: Die Göhrde-Morde und die verschwundene Frau", die am Freitag, 27. September 2019 um 20.15 Uhr ausgestrahlt wird, haben wird den Artikel erneut veröffentlicht. Mehr zu den sogenannten Göhrde-Morden lesen Sie auch hier.
Die Geschichte klingt als sei sie der Phantasie eines Krimi-Autors entsprungen. Es ist die Geschichte von einem Polizisten, der nie aufgab und nach 28 Jahren ein Rätsel löst, an dem sich schon viele versucht haben.
Brietlingen-Moorburg bei Lüneburg in Niedersachsen im Sommer 1989. Am 14. August verlässt die damals 41-jährige Birgit M. ihr Wohnhaus – es ist das Letzte, was aus dem Leben der Frau bekannt ist. Zeugen werden später beschreiben, dass sie an dem Tag ein schilfgrünes Hosenkleid und ein goldfarbenenes Top trug.
Aufruf bei "Aktenzeichen XY... ungelöst"
Das erfährt auch die Lüneburger Polizei, die damals nach der Vermisstenanzeige, wie sie sagt, "umfangreiche Ermittlungs- und Suchmaßnahmen in Gang" gesetzt habe. Doch bei der Suche kommen die Fahnder nicht voran, schließlich wenden sie sich an das ZDF. Eduard Zimmermann wird in seiner Sendung "Aktenzeichen XY... ungelöst" einen Aufruf verlesen.
"Nach Lage der Dinge muss mit einem Verbrechen gerechnet werden", sagt Zimmermann. Für Hinweise, die zur Aufklärung führen, sei eine Belohnung von 10.000 D-Mark ausgesetzt. Doch diese Hinweise kommen nicht. Nicht am Abend der Ausstrahlung, nicht in den Wochen, nicht in den Monaten, nicht in den Jahren danach.
So ist es die klassische Ermittlungsarbeit, die die Beamten auf die Spur von mehreren Verdächtigen führt: Unter anderem gerät der Ehemann von Birgit M. ins Visier der Fahnder, das Paar hatte sich vor dem Verschwinden der Frau getrennt. Schließlich fokussieren sich die Ermittlungen aber auf Kurt W., einen seinerzeit 40-jährigen Friedhofsgärtner aus Lüneburg, der wegen Sexualdelikten vorbestraft ist. Als die Polizei eine Hausdurchsuchung bei W. plant, erfährt er es, setzt sich ab und taucht zunächst unter. Später nehmen ihn Beamte bei einer Polizeikontrolle fest – wegen eines anderen Verdachts. Doch in der U-Haft erhängt er sich. Die Untersuchungen gegen W. werden eingestellt, gegen Tote ermittelt man nicht. Das Verschwinden von Birgit M. bleibt ungeklärt – als Vermisstenfall kommt er zu den Akten.
Die Presse stellt der Polizei kein gutes Zeugnis aus
Die Presse stellt der Polizei in Lüneburg kein gutes Zeugnis aus. Von "Schlamperei" ist die Rede, von "Peinlichkeiten", die Arbeit sei "kein Ruhmesblatt" für die Ermittler und "lustlos", urteilen die Reporter.
All das bekommt auch Wolfgang Sielaff mit. Als Birgit M. verschwindet, ist er 47 Jahre alt. Wolfgang Sielaff ist Polizist, aber nicht irgendeiner. Er ist damals Leiter des Hamburger Landeskriminalamtes (LKA), ein hoch angesehener Kriminalist. Und er ist der Bruder von Birgit M.
Für Wolfgang Sielaff ist seinerzeit schnell schnell klar, dass seine Schwester ermordet wurde, schreibt die "Hamburger Morgenpost". Vielleicht aus einem brüderlichen Gefühl, vielleicht aus kriminalistischem Gespür, vielleicht sind es aber auch die vielen Umgereimheiten in den bisherigen Ermittlungen, die Sielaff an der Version vom einfachen Verschwinden seiner Schwester zweifeln lassen. Doch bei den Lüneburger Kollegen blitzt er ab und so forscht er auf eigene Faust weiter.
Das mysteriöse Verschwinden seiner Schwester lässt den LKA-Chef nicht los – Jahre nicht, Jahrzehnte nicht. Nach seiner Verabschiedung in den Ruhestand 2002 befasst sich der heute 75-Jährige noch intensiver mit dem Fall, so das "Hamburger Abendblatt", und er versammelt Weggefährten und Experten um sich. Darunter seien der renommierte Rechtsmediziner Klaus Püschel, der Strafverteidiger Gerhard Strate, Psychologen, frühere Staatsanwälte und Kriminalbeamte.
Der Mordfall wird wieder aufgerollt
Gemeinsam gehen sie alle Spuren noch einmal durch, lesen Berichte, führen unzählige Gespräche, fügen einzelne Details zusammen – so wie sie es in zig Berufsjahren immer wieder gemacht haben. Ein Verbrechen halten sie für immer wahrscheinlicher und auch, dass W. der Täter ist, glaubt die Gruppe.
Im September 2015, 26 Jahre nach dem Verschwinden von Birgit M., schaltet sich auch die Kriminalpolizei in Lüneburg wieder aktiv in den Fall ein. Zwei erfahrene Beamte sollen den ungeklärten Fall, einen sogenannten Cold Case, wieder aufrollen, alle Akten noch einmal durchgehen – mit dem Blick von heute. Nach einem halben Jahr ziehen die Ermittler ihr vorläufiges Fazit: "Dieser Tatverdacht (gegen W., die Red.) konnte inzwischen durch die aktuellen Ermittlungen weiter erhärtet werden", teilen sie mit. "Ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende der Ermittlungen klarer sehen, was mit Birgit M. geschehen ist", ergänzt der Polizeipräsident im Mai 2016. Doch eindeutige Beweise fehlen weiter, ebenso die Leiche der Vermissten. Die Suche geht weiter.
Vor rund einer Woche stehen Wolfgang Sielaff und seine Mitstreiter an einem Grundstück in der Straße Streitmoor am Rande Lüneburgs. Es ist das frühere Grundstück von Kurt W.
In der Nachbetrachtung wirkt es fast zwangsläufig, dass die Spuren wieder dorthin führen. "Es geht mir um Haus und Hof, versucht bitte alle, in einem gemeinsamen Kraftakt unser Heim zu erhalten, bitte, bitte!!", soll W. laut "Lüneburger Landeszeitung" in seinem Abschiedsbrief geschrieben haben. Und: "Ich mache mir die allergrößten Sorgen, wenn ich an unser Haus, Grundstück und alles, was damit zusammenhängt, denke." Bei der Durchsuchung in den 1990er-Jahren finden Ermittler ein geheimes Zimmer, in dem laut "Hamburger Morgenpost" "diverse Waffen, Handschellen, Stricke und starke Medikamente, mit denen man Menschen betäuben kann" liegen. An einer sichergestellten Handfessel wird später sogar DNA von Birgit M. entdeckt und im Garten des Hauses wird ein vergrabener Ford gefunden, an dem Leichenspürhunde anschlugen. Doch eine Tote findet man nicht, auch nicht im März 2017, als das Grundstück erneut untersucht wird. Der Fall droht wieder in der Versenkung zu verschwinden. Keine Leiche – kein Mord?
"Menschliche Knochen!", schallt es über das Grundstück
Der frühere LKA-Chef Wolfgang Sielaff glaubt weiter nicht daran und kann schließlich die jetzigen Eigentümer des Grundstücks am Rande von Lüneburg überzeugen, erneut nach der Leiche suchen zu dürfen. Im Fokus stehen die Garage und ihre Kfz-Grube. Eine Baufirma rückt an, stemmt dort vorsichtig Löcher in den Betonboden.
Am Freitag vergangener Woche schallt am Mittag dem "Abendblatt"-Bericht zufolge ein Ruf über das Grundstück: "Menschliche Knochen!" Ein Schock sei das gewesen, sagt Sielaff dem Blatt, aber auch eine Erleichterung,
Noch am selben Tag herrscht Gewissheit: Das Team hat die sterblichen Überreste von Birgit M. gefunden, 28 Jahre nach ihrem Verschwinden. Die alarmierte Polizei gräbt weiter, sichert kleinste Spuren und die gefundenen Knochen. Gerichtsmediziner Püschel, einer aus Sielaffs Team, kann das Opfer anhand des Zahnschemas identifizieren – es ist Birgit M.
Staatsanwaltschaft und Polizei in Lüneburg geben am 4. Oktober nüchtern bekannt: "Die Ermittlungen fokussierten sich schließlich wieder auf einen (...) seinerzeit 40-jährigen Lüneburger Friedhofsgärtner (...) Aufgrund der neu aufgenommen Ermittlungen kann dieser Tatverdacht nun mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bestätigt werden." Damit ist der Fall fast geklärt: Die genauen Todesumstände müssen jetzt untersucht werden, außerdem prüfe man, ob W. noch für weitere schwere Gewalttaten verantwortlich ist oder Komplizen hatte.
"Das ist Sache der Polizei", sagt Wolfang Sielaff abschließend der "Lüneburger Landeszeitung". Der Beamte, der nie aufgab, hat seinen letzten Fall gelöst. Seine Familie sei froh, dass sie nun Abschied nehmen könne.
Nach 28 Jahren.