Der Hamburger Venusberg ist ein ruhiges Wohnviertel direkt in der Neustadt. Unweit des Michels ist nach dem Krieg eine Wohnsiedlung im typisch hanseatisch-roten Backstein entstanden. Hier wohnen Witwen ebenso wie junge Familien. In den Fenstern hängen geschwungene Gardinen, die Vorgärten sind gepflegt. "Durchgang nur für Bewohner", steht auf Schildern. Hier darf's gern ein bisschen spießig sein. Nichts deutet darauf hin, dass die beschauliche Straße Schauplatz eines schaurigen Verbrechens ist.
Im Januar wird in einer Erdgeschosswohnung die Leiche des Brasilianers Matheus A. gefunden. Der Informatiker lebte seit zwei Jahren in Hamburg und arbeitete dort. Als der 29-Jährige morgens nicht mehr zur Arbeit erscheint, wird er als vermisst gemeldet. Monatelang wird nach ihm gefahndet. Dann bekommt die Polizei einen Tipp. Sie findet die völlig verweste Leiche von Matheus A. bei einer Wohnungsdurchsuchung. Sein Körper lag sechs Monate in einem Gästezimmer, nur von Sand und Säcken bedeckt.
Was ist mit Matheus A. passiert? Das soll der Prozess gegen Marco T., den Wohnungsinhaber, klären. Seit Juli muss sich der 46-Jährige wegen Mordes vor dem Hamburger Landgericht verantworten. Der Vorwurf: Der Mann, der Matheus A. nach eigenen Angaben beim Feiern kennenlernte, soll sein Opfer unter Drogen gesetzt und dann sexuell missbraucht haben. Als Matheus A. sich wehrte, soll er ihn getötet haben. Doch Marco T. bestreitet die Tat.
"Er war blau angelaufen" - Angeklagter lässt eigene Version der Tat verlesen
Der Angeklagte ist 1,65 Meter groß, kahlköpfig und auf der Anklagebank stets korrekt mit einem weißen Hemd gekleidet. Niemand würde vermuten, dass er wegen Mordes vor Gericht steht. Marco T. gibt an, unschuldig zu sein. Doch wieso lebte er über sechs Monate mit einer Leiche zusammen? Über seinen Anwalt gibt er eine Erklärung ab. Seine Version: Er habe Matheus A. mit nach Hause genommen. Dieser habe Drogen genommen und sein Verhalten habe sich immer stärker verändert. Das Opfer habe ihm sexuelle Avancen gemacht. Es sei zu einer Rangelei gekommen. Matheus A. habe sich dann aufs Bett gelegt und sei eingeschlafen. Am anderen Morgen sei er tot gewesen. Sein Gesicht sei blau angelaufen gewesen, aus dem Mund sei Blut gekommen.
"Jeder Tag, den ich nicht zur Polizei gegangen bin, machte alles nur noch schlimmer. Mir ist klar, dass ich ganz anders hätte reagieren müssen“, liest der Anwalt vor. Aus Angst vor der Polizei habe sein Mandant die Leiche ins Gästezimmer geschafft, das er danach nicht mehr betrat. Seine Wohnung nutzte der Angeklagte jedoch weiterhin. Trotz des Gestanks, der sich überall ausbreitete.
Marco T. gab sich als Chirurg aus
Stimmen die Ausführungen von Marco T.? Oder war es doch ein grausamer Mord, um eine Vergewaltigung zu decken, wie die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten vorwirft? Das versucht das Gericht mit Zeugenaussagen herauszufinden. In der vergangenen Woche vernahm der Richter zwei Ex-Freunde des Angeklagten. Sie zeichneten ein düsteres Bild des mutmaßlichen Täters.
Ein Mann, der mit Marco T. seit 2018 nach eigenen Angaben eine Affäre hatte, berichtet, dass er mit ihm nach Hause gegangen sei. Als er ihn auf den Geruch in der Wohnung ansprach, habe dieser entrüstet reagiert. Er habe den Gestank später auch an Marco T. selbst festgestellt, ihn aber nicht zuordnen können. Er habe den Angeklagten öfters beim Lügen erwischt. So habe sich dieser auf der Datingplattform Tinder als Chirurg ausgegeben.

Ein weiterer Zeuge, ein Exfreund des Angeklagten, berichtet dem Gericht von krankhafter Eifersucht, Gewalt, und Machtspielchen. Die Beziehung sei toxisch gewesen. Mehrfach habe Marco T. ihn zu sexuellen Handlungen überredet, obwohl er diese nicht mehr wollte. Auch seine HIV-Erkrankung habe er ihm verschwiegen. Die Schwester des Opfers sagt aus, dieser habe zuvor nur Beziehungen zu Frauen gehabt. Auch habe er nie Drogen genommen. Ein Widerspruch zu der Aussage von Marco T.
Indizienprozess geht weiter
Der Indizienprozess geht in den kommenden Wochen weiter. Erst danach wird auch am Hamburger Venusberg wieder Ruhe einkehren. Dass sie monatelang Tür an Tür mit einer Leiche und einem mutmaßlichen Mörder gelebt haben, können die Nachbarn nicht fassen. Die Wohnung von Marc T. steht leer.