Der erste Gedanke vieler New Yorker galt dem 11. September 2001. "Es ist genau das gleiche 'Was ist bloß los?'-Gefühl", sagte der 26-jährige Giovanni Leonardo. Um 16.11 Uhr Ortszeit legte der bislang größte Stromausfall in der Geschichte der USA das gesamte öffentliche Leben in der Metropole lahm. Die Folge: kein Strom, keine Klimaanlage, keine Ampeln, keine U-Bahn. Bürgermeister Michael Bloomberg versicherte rasch, es habe keinen Terroranschlag gegeben - und beruhigte damit viele der acht Millionen Einwohner.
Weniger als einen Monat vor dem zweiten Jahrestag der Anschläge erinnerte dennoch vieles an den damaligen 11. September: In Manhatten strömten Angestellte aus ihren Bürogebäuden, nachdem sie zahllose Treppenstufen zu Fuß hinuntergelaufen waren. Alle Brücken und Tunnels in Richtung Innenstadt wurden gesperrt. Die Straßen waren voll von Fußgängern, viele liefen über die Brooklyn Bridge nach Hause in Richtung East River - wie sie es bereits vor zwei Jahren getan hatten. Geschäftsfrauen mit hochhackigen Sandalen versuchten, bequemeres Schuhwerk für den Heimweg zu kaufen. Adrienne Onofri hatte mehr Glück: Sie hatte ihre Inline-Skates im Büro liegen.
U-Bahnen in völliger Dunkelheit
Viele New Yorker brachte der Stromausfall in eine unangenehme Lage. "Ich saß gerade auf dem Zahnarztstuhl, da drehte sich der Bohrer nicht mehr", erzählte die 18-jährige Jackie Smith einem Rundfunksender. Tausende andere erwischte der "Blackout 2003" im Fahrstuhl oder in der U-Bahn. In Bussen drängelten sich die Menschen um die letzten Plätze - die Klimaanlagen dort gehörten zu den wenigen, die überhaupt noch funktionierten. Vor öffentlichen Telefonzellen bildeten sich lange Schlangen, weil die Mobilfunknetze zusammenbrachen.
Die Polizei stationierte schwer bewaffnete Beamte spezieller Anti-Terroreinheiten an wichtigen Punkten der Stadt, wie Polizeipräsident Ray Kelly mitteilte. Die Einsatzleiter hielten sich an Notfallpläne, die nach dem Anschlag auf das World Trade Center entwickelt worden waren. Insgesamt waren mehr als 9.000 Polizisten im Einsatz.
Flughäfen lahm gelegt
An den drei Flughäfen New Yorks wurden alle Abflüge abgesagt, nur Landungen waren noch möglich. Die Reisenden am Newark Liberty International Airport mussten nach ihrer Ankunft bei sengenden Temperaturen im Terminal ausharren. Chad Burns wartete eineinhalb Stunden auf sein Gepäck, bevor er sich in tiefer Dunkelheit auf den Weg nach draußen machen konnte.
Ausschank, solange die Kerzen brennen
Der frühere New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani, der für viele New Yorker nach den Anschlägen vom 11. September zum Idol wurde, forderte die Menschen auf, locker mit dem Stromausfall umzugehen. Und viele hielten sich an seinen Rat. Die meisten Restaurants schlossen zwar im Lauf des Nachmittags, einige Kneipen machten jedoch guten Umsatz: Der Wirt von Patrick Conway’s schenkte sein Bier aus, solange es noch unter 30 Grad warm war. Auch der Inhaber der Electric Banana Bar in Manhatten kündigte an, so lange auszuschenken, wie seine Kerzen brannten - Anwohner brachten daraufhin am Abend eigene mit.
Steaks wurden aus den schmelzenden Eisfächern geholt und auf Grills gepackt, Eiscreme geleckt, bevor sie endgültig zerlief. Viele New Yorker kümmerten sich nicht um das in der Stadt geltende Rauchverbot und zündeten auf offener Straße Zigaretten an.
Tausende, wenn nicht Zehntausende machten allmählich den Central Park zu einem riesigen Open-Air-Hotel. "So viele Kerzenlichter habe ich hier noch nie gesehen", sagte Rebecca Fletcher, eine Krankenschwester aus Brooklyn. "Da es ringsum in den ganzen Wolkenkratzern kein Licht mehr gibt, kommt unser Kerzenmeer besonders gut zur Geltung." Am frühen Morgen waren viele Kerzenstummel ausgebrannt. Aus dem Happening war eine Schlafnacht im Park geworden. "Was wäre, wenn uns das mitten im Winter passiert wäre?", fragte Fletcher. Keiner dieser Gruppe von rund 30 Central-Park-Schläfern antwortete mehr. Aus einem Transistorradio war noch zu hören: "Auch am Freitag keine U-Bahn, Leute, bleibt zu Hause und das empfehlen wir auch dem Bürgermeister." Doch der war zu der Zeit wohl schon zu Bett gegangen.
Musical-Shows abgesagt
Die normalerweise hell erleuchteten Fronten der Theater am Broadway blieben am Donnerstag vollständig dunkel, 19 Musicals und drei Theaterstücke mussten abgesagt werden. Zuletzt lag der Broadway am 11. September 2001 für zwei Tage im Dunkeln. "Wir sehen uns jetzt stattdessen die Leute auf der Straße an", sagte eine Touristin. "Man muss ja das Beste draus machen."
Glück hatten die Besucher eines Freizeitparks in Massachusetts: Kim Hicks saß in der Achterbahn, als der Strom ausfiel und konnte erst nach 20 Minuten aussteigen. "Gott sei Dank stoppte die Achterbahn auf einem flachen Stück, nicht oben in der Kurve", sagte sie.
Bananenrepublik ohne Power?
Irgendwann nach Mitternacht schlägt am Times Square die optimistische Tapferkeit in Ärger um. "Ein paar Stunden ohne Strom in einer heißen Sommernacht sind irgendwie okay", sagt Albert Brownstein. "Aber zu viel ist zu viel, wer sind wir denn. Das großartigste und mächtigste Land der Welt oder eine Bananenrepublik ohne Power?" Power bedeutet im Englischen so viel wie Macht - oder auch Energie. Der Investmentbanker versteht angesichts des größten Blackouts in der Geschichte Nordamerikas die Welt nicht mehr.