Ischingers Welt Warum ein Nato-Beitritt der Ukraine endgültig vom Tisch ist

Wolfgang Ischinger Merz Putin Trump
Langjähriger Diplomat mit Blick fürs Ganze – von Merz bis Trump, von Putin bis Xi: Wolfgang Ischinger
© stern-Montage: Fotos: Imago; Getty Images
Wolfgang Ischinger ist einer der erfahrensten deutschen Diplomaten. Für den stern blickt er hinter die Fassaden. Diesmal: Was Trumps neue Sicherheitsstrategie für Europa bedeutet.

Herr Ischinger, was hat Sie überrascht in dieser Woche?   
Dass die amerikanische Regierung es für richtig gehalten hat, die Kosten für die nun schon fünfte Reise nach Moskau zu übernehmen, obwohl vorhersehbar war, dass die russische Seite nicht bereit ist, im Ukrainekrieg auch nur einen Millimeter von ihren Maximalzielen abzuweichen. Gespräche über einen Friedensplan sind im Moment nicht realistisch. Leider! Es hat mich überrascht, dass die Amerikaner diese Reise trotzdem für richtig gehalten haben, ohne zunächst den Druck auf Russland stark zu erhöhen.   

Aber – wir haben darüber schon gesprochen – ist das nicht sehr typisch für die russische Verhandlungsstrategie: bis zuletzt die Maximalforderungen aufrechtzuerhalten?
Das mag so sein. Aber wenn das Ziel heißt, Russland von seinen Maximalforderungen abzubringen, dann kann die Methode nur sein, den Druck auf Moskau in allen Bereichen zu erhöhen. Im Übrigen haben die letzten Wochen gezeigt, dass der russische Plan kein Friedensplan, sondern ein Spaltungsplan ist. Und zwar ein doppelter: Erstens soll er einen Keil zwischen die USA und Europa treiben, und zweitens soll er Misstrauen zwischen Europäern und Ukrainern säen.   

Wolfgang Ischinger
© Lennart Preiss / DPA

Zur Person

Wolfgang Ischinger war von 2001 bis 2006 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in den USA, von 2006 bis 2008 dann in Großbritannien. Anschließend übernahm er die Leitung der Münchner Sicherheitskonferenz, die er bis heute führt

Der "Spiegel" zitiert aus einer Konferenz der europäischen Staatschefs mit Wolodymyr Selenskyj vom Montag. Emmanuel Macron warnt vor einem "Verrat" durch die USA, auch Friedrich Merz äußert sich sehr kritisch gegenüber Washington. Hat Sie gewundert, wie offen da hinter verschlossenen Türen gesprochen wird?  
Nein. Es hätte mich überrascht, wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs nach der Diskussion über den 28-Punkte-Plan nicht in tiefer Sorge wären. Denn möglicherweise könnten da ja amerikanisch-russische Interessen über die der Ukraine gestellt werden. Bedauerlich finde ich aber in diesem Zusammenhang, dass der russische Unterhändler Kirill Dmitriev, der das Vertrauen des russischen Präsidenten Wladimir Putin genießt, öffentlich den Bundeskanzler beleidigt: Er schreibt auf X von Merz’ "sturer Dummheit". Das belastet die ohnehin schwierige Atmosphäre noch weiter.

Donald Trump hat nun seine neue nationale Sicherheitsstrategie veröffentlicht. Bezüglich der Ukraine steht dort, dass die USA sich in diesem Konflikt nur noch als Vermittler sehen.
Ich sehe das etwas weniger dramatisch. In dem einen Dokument, das die Handschrift von Fachleuten aus dem State Department oder dem Pentagon trägt, wird die Unverzichtbarkeit Europas für amerikanische strategische Interessen deutlich wiederholt. Dort wird auch die neue Lastenverteilung angesprochen, wie sie beim Nato-Gipfel in Den Haag beschlossen wurde. Und es geht auch grundsätzlich in die richtige Richtung, wenn die USA von strategischer Stabilität mit Russland sprechen. Das bedeutet die Aufrechterhaltung einer Sicherheitsordnung für den euro-atlantischen Raum. Wenn es gelingt, diese strategische Stabilität wieder zu errichten, ist das natürlich eindeutig im europäischen Interesse. Das könnte auch die Tür zur Rüstungskontrolle wieder öffnen – überfällig!  

Aber in dem Strategiepapier werden die Europäer ja auch massiv angegriffen …  
Andere Teile des Dokuments spiegeln ideologische Positionen wider. Sie erinnern mich an das, was die Redenschreiber von US-Vizepräsident J. D. Vance ihm in sein Manuskript für die Münchner Sicherheitskonferenz vor einem knappen Jahr geschrieben haben. Das ist eine Fundamentalkritik an der Überlebensfähigkeit Europas. Da wird wörtlich eine "Auslöschung der europäischen Zivilisation" an die Wand gemalt. Das sind Vorstellungen, die aus meiner Sicht mit der europäischen Wirklichkeit wenig zu tun haben. Dieser Kritik können wir Europäer mit einer Gegenfrage begegnen: Wie steht es denn um eine politische, demokratische Kultur in Amerika, die Minderheiten einbezieht, die Rücksicht nimmt, Polarisierung vermeidet und den politischen Gegner nicht verteufelt?  

Unterm Strich also halb so schlimm? 
Reduziert auf die sicherheitspolitischen Aussagen finde ich manches durchaus richtig. Allerdings hätte ich mir ein deutlicheres Bekenntnis zum Fortbestand des transatlantischen Bündnisses, also der Nato, gewünscht.

Gerade zur Nato steht da explizit als Ziel, "der Wahrnehmung ein Ende zu setzen und die Realität der Nato als eines sich ständig erweiternden Bündnisses zu verhindern". Das ist der Schlussstrich unter die Pläne eines Beitritts der Ukraine, oder?   
So ist es, aber auf diesen groben Klotz will ich einen groben Keil draufsetzen: Wer hat denn die Einbeziehung der Ukraine in die Nato ursprünglich gefordert? Das waren die USA, und zwar seit 2008. Die USA haben uns damals für unsere zurückhaltende Haltung massiv kritisiert, uns Fahnenflucht und Untreue vorgeworfen. Deshalb gebe ich diesen Punkt direkt an die amerikanische Adresse zurück.   

Trump würde Ihnen entgegnen: Das waren eben diese Präsidenten in den vergangenen Jahrzehnten, die alles falsch gemacht haben.
Es war eine republikanische Administration unter George W. Bush, die damals diese Nato-Erweiterungsschritte gefordert hat, nicht die Demokraten. Und weiß man in Washington, dass die letzte Erweiterung nach Osten 2002, also vor über 20 Jahren stattfand?

Unabhängig von der Schuldfrage: Haben die USA damit jetzt nicht auf dem Weg zum Frieden in der Ukraine einen großen Stein weggeräumt? 
De facto ist dieser Stein doch schon seit geraumer Zeit aus dem Weg.  

Aber die Russen haben so etwas gerne schwarz auf weiß.  
Ja, insoweit kann man diesen Satz in der Tat als eine Geste an die russische Seite lesen. Aus verhandlungstaktischen Gründen hätte ich es allerdings besser gefunden, diesen Punkt erst am Schluss einzuräumen – für eine russische Gegenleistung.  

Liest sich dieses Dokument nicht wie ein großer Schritt in Richtung einer multipolaren Weltordnung?   
Aus amerikanischer Sicht eher nicht: Denn militärisch, technologisch, ökonomisch und strategisch bekräftigt diese Strategie den US-Anspruch auf eine globale Vormachtstellung.  

Hohe Beamte in der Ukraine sagen inzwischen hinter vorgehaltener Hand, der nächste Deal, der uns angeboten wird, könnte noch schlechter sein. Welche Verhandlungsstrategie empfehlen Sie Selenskyj? 
Ich teile diesen Pessimismus nicht. Auch in dem Dokument, über das wir gesprochen haben, lese ich ein Bekenntnis der USA zu einem überlebensfähigen, selbstständigen, souveränen ukrainischen Staat. Darauf sollte sich Selenskyj in seinen Gesprächen mit den USA berufen. Und er kann jetzt mit einiger Zuversicht davon ausgehen, dass wir Europäer die 140 Milliarden Euro an eingefrorenem russischem Zentralbankvermögen für die Ukrainer freisetzen. Das wird auch eine wichtige Botschaft an Moskau: Nein, wir Europäer verlieren weder den Mut noch die Fähigkeit, die Ukraine zu unterstützen.

Ihr Wort in Bart de Wevers Ohr, Herr Ischinger. Belgiens Premier sträubt sich ja derzeit noch gegen eine Freigabe. Zuletzt: Wo bleibt das Positive in dieser Woche?
Ich bin zutiefst erfreut darüber, dass in Sachsen-Anhalt das Arrow-3-System in Dienst gestellt wurde, ein israelisches Raketenabwehrsystem. Die deutsch-israelischen Beziehungen sind zentral wichtig, aber in den letzten Jahren auch durchaus kompliziert gewesen. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir Israel geholfen, besonders mit den U-Booten, die wir geliefert haben. Dadurch war das Verhältnis zugleich in eine gewisse Einseitigkeit geraten. Durch die Arrow-3 wird wieder ein besseres Gleichgewicht erreicht: Israel hilft Deutschland, und zwar so, dass Deutschland überlebensfähig bleibt, wenn es mit ballistischen Raketen angegriffen werden sollte. Für die Gesundheit der deutsch-israelischen Beziehungen ist das eine sehr erfreuliche, grandiose Nachricht. Diese enge Zusammenarbeit ermöglicht es dem Bundeskanzler auch, bei seinem Israel-Besuch in der kommenden Woche bei strittigen oder kontroversen Themen Tacheles zu reden. 

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