Ein Mann läuft vor einem Polizisten weg - und wird von hinten erschossen: In einem Handyvideo ist zu sehen, wie der weiße Polizist Michael S. in North Charleston im US-Bundesstaat South Carolina den offenbar unbewaffneten Familienvater Walter Scott mit mehreren Schüssen in den Rücken niederstreckt. Anders als in vielen vorangegangen Fällen ist der 33-jährige Beamte wegen Mordverdachts angeklagt. Dennoch hat der Tod von Scott Empörung in den USA ausgelöst. Denn die Meldungen von tödlicher Polizeigewalt - vor allem gegen Schwarze - scheinen immer mehr zu werden. Allein im vergangenen Jahr machten fünf Fälle Schlagzeilen - immer waren die Opfer unbewaffnet.
- Dezember 2014: Der 34-jährige Schwarze Rumain Brisbon wird in Phoenix im Bundesstaat Arizona von einem weißen Polizisten erschossen. Offiziellen Angaben zufolge ist der Beamte wegen vermuteter Drogendelikte vor einem Geschäft im Einsatz, als es eine Auseinandersetzung gibt und er zwei Schüsse abfeuert. Demnach vermutete der Polizist eine Waffe in Brisbons Tasche. Dort befand sich jedoch lediglich eine Packung mit Medikamenten, die auch als Aufputschmittel benutzt werden können.
- November 2014: Der unbewaffnete Schwarze Akai Gurley wird von einem jungen Polizisten im New Yorker Stadtteil Brooklyn erschossen. Der Vater einer kleinen Tochter geht mit seiner Freundin ein dunkles Treppenhaus hinunter, weil der Aufzug nicht fährt. Der Polizist asiatischer Abstammung zieht seine Waffe und tötet Gurley mit einer Kugel, ohne dass sich der 28-Jährige in irgendeiner Form verdächtig verhalten hätte, wie der Schütze selbst einräumt.
- November 2014: Ein weißer Polizist erschießt in Cleveland, Ohio den zwölfjährigen Tamir Rice. Der Beamte hält eine Druckluft-Spielpistole, die der Junge in den Händen hat, für eine echte Waffe. Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, dass der Polizist nach der Ankunft am Ort des Geschehens binnen Sekunden schießt. Andere Polizeistellen hatten ihn früher für dienstuntauglich erklärt.
- August 2014: In Ferguson, Missouri feuert der weiße Polizist Darren Wilson mehr als zehn Schüsse auf den schwarzen Teenager Michael Brown ab und tötet ihn. Brown geht mit einem Freund mitten auf der Straße, weshalb der 18-Jährige von der Polizei angehalten wird. Wilson handelt nach eigener Aussage nach einem Handgemenge in Notwehr, allerdings ist Brown unbewaffnet. Der Fall löst tagelange Unruhen aus. Eine Geschworenenjury entscheidet, dass Wilson nicht vor Gericht muss. Rechtswidriges Verhalten sei ihm nicht nachzuweisen.
- August 2014: In der kalifornischen Metropole Los Angeles wird Ezell Ford auf der Straße von zwei Polizisten erschossen. Der 25-Jährige ist unbewaffnet. Angeblich versucht er vor den Todesschüssen, einem der Polizisten die Waffe zu entwenden. Angehörigen zufolge ist Ford psychisch gestört. Sein Leichnam zeigt laut dem Autopsiebericht auf der rechten Seite des Rückens den Abdruck der Pistolenmündung.
- Juli 2014: Der sechsfache Familienvater Eric Garner stirbt bei einem Polizeieinsatz in New York an den Folgen eines Würgegriffs. "Ich kann nicht atmen", stößt der an Asthma leidende stämmige 43-Jährige als letzte Worte hervor, wie später auf einem Amateurvideo zu sehen ist. Der Afroamerikaner wurde des illegalen Zigarettenverkaufs verdächtigt. Eine Geschworenenjury entscheidet später, keine Anklage gegen den weißen Polizisten Daniel Pantaleo zu erheben, der Garner in den Schwitzkasten genommen hatte.
Die Opfer waren in all diesen Fällen Schwarze. FBI-Direktor James Comey räumte vor einigen Wochen ein, dass es Polizisten gebe, die Vorurteile über afroamerikanische Bürger hätten. Die Beamten hätten häufig in Städten zu tun, in denen der überwiegende Teil der Straßenkriminalität von Schwarzen begangen werde. Sowohl schwarze als auch weiße Polizisten würden schwarze Bürger dann oft in einem anderen Licht sehen als weiße.
Das habe aber nichts mit Rassismus der Polizei zu tun, meinte Comey. Die Wahrheit sei, dass schwarze Jugendliche es in der US-Gesellschaft schwerer hätten, etwa weil die Schulabbrecherquote und Arbeitslosigkeit unter ihnen doppelt so hoch sei wie unter Weißen. Die Polizisten hätten öfter mit schwarzen Straftätern zu tun, weil so viele Minderheitenfamilien gegen Armut kämpfen müssten. In betroffenen Gegenden würden junge Leute oft in einem Klima mit Kriminalität und Gefängnis aufwachsen.
Risiko für junge Schwarze 21 Mal größer
US-Medien zitieren in dem Zusammenhang Statistiken, die zweierlei zeigen: Zum einen werden Schwarze überproportional oft kontrolliert, vor Gericht gestellt und verurteilt. Zum anderen gibt es kaum Fälle, in denen Beamte für Gewalt zur Rechenschaft gezogen werden. Laut einer Studie des John Jay College für Kriminologie in New York kam es in 21 untersuchten Fällen zwischen 1994 und 2009, in denen ein Polizist einen unbewaffneten Afroamerikaner erschoss, sieben Mal zu einer Anklage - ob wegen fahrlässiger Tötung, der Behinderung der Justiz oder dem Bruch von Bürgerrechten. In drei Fällen wurden die Beamten schuldig gesprochen.
Die unabhängige Journalismus-Institution ProPublica errechnete, dass in den USA für junge Schwarze das Risiko 21 Mal größer ist, von der Polizei erschossen zu werden als für junge Weiße. Basis sind 1217 Fälle zwischen 2010 und 2012. Es gab viel mehr Fälle, denn längst nicht alle der rund 17.000 Polizeistellen im Land geben diese Daten weiter. Verlässliche Zahlen gibt es daher kaum. Nach einer Hochrechnung der Zeitung "USA Today" mit Daten des FBI ist es in 25 Prozent der Fälle tödlicher Polizeigewalt so, dass ein weißer "Cop" einen Afroamerikaner erschießt.
"Tue, was ich Dir sage"
Doch es gibt auch viele Bürger, die den Gesetzeshütern den Rücken stärken. "Kein Polizist geht auf die Straße, um jemanden zu erschießen, sei es eine bewaffnete oder unbewaffnete Person", schrieb der Professor für Heimatschutz an der Colorado Tech University, Sunil Dutta, vor einiger Zeit in der "Washington Post". "In der überwältigenden Zahl der Fälle können nicht die Polizisten verhindern, dass eine Verhaftung in einer Tragödie endet, sondern die Menschen, die angehalten werden", behauptet er.
Polizisten würden häufig angeschrien oder aggressiv bedrängt. "Wenn sie Gewalt anwenden, dann um ihre eigene oder die öffentliche Sicherheit zu verteidigen." Für Dutta ist die Sache daher klar: "Wenn Du nicht erschossen, mit Elektroschocks und Pfefferspray angegriffen, mit einem Knüppel geschlagen oder auf den Boden geschleudert werden willst, dann tue, was ich Dir sage", lautet sein Tipp.
Vater von Opfer erkämpft neues Gesetz
Michael Bell - ein Weißer - sieht das ganz anders. Er verlor vor zehn Jahren seinen Sohn. Ein Polizist tötete den 21-Jährigen bei einer Verkehrskontrolle. Der Beamte sei mit seiner Pistole an einem kaputten Außenspiegel des Wagens hängengeblieben. Er dachte, der junge Mann würde nach seiner Waffe greifen - und erschoss ihn.
Es habe nur 48 Stunden gedauert, schrieb Bell vergangenen August im Magazin "Politico", bis die Behörden sich ganz ohne Zeugenbefragung und Beweisaufnahme vollständig von der Tat reingewaschen hätten - es gab keine Anklage, keinen Prozess, nicht mal eine Strafversetzung für den Beamten. Bell kämpfte in seinem Heimatstaat Wisconsin jahrelang für ein Gesetz, demzufolge jeder Todesschuss durch einen Polizisten von einer unabhängigen Behörde überprüft werden muss. Er hatte Erfolg, das Gesetz trat 2012 in Kraft. Doch Wisconsin ist da eine Ausnahme.