Kampf ums Überleben Wie wichtig der Eisenbahnchef plötzlich für die Ukraine ist – und warum Putin ihn töten will

Oleksandr Kamyshin spricht in ein Mikrofon an einem Bahnhof
Oleksandr Kamyshin, der Eisenbahnchef der Ukraine, im August 2021. Damals ahnte er wohl noch nicht, welche Rolle er und die Eisenbahn im Krieg mit Russland spielen wird.
© Photoshot / Picture Alliance
Während sich der Krieg in der Ukraine zunehmend ausweitet, bemüht sich die Bahn weiter um ihren Dienst. Dabei spielt die ukrainische Eisenbahn und deren Chef Oleksandr Kamyshin eine wichtige Rolle – ständig mit der Gefahr, von russischen Truppen getötet zu werden.

"Wir müssen schneller sein, als die Leute, die versuchen, uns zu verfolgen", berichtete Oleksandr Kamyshin der BBC. Deshalb ändert er ständig seine Routen, versucht, nie zu lange am selben Ort zu bleiben. Der CNN sagte er, "Stunden" sei die längste Zeit, die er und sein Team sich an einem Ort aufhalten würden. Schutz in der Kriegssituation sollen ihm seine Leibwächter bieten. Denn der Vorsitzende des ukrainischen Eisenbahnnetzes ist sich sicher: Die Russen würden ihn gerne töten.

Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs am 24. Februar ist Kamyshin zu einer der wichtigsten Personen im Land geworden. Er sorgt dafür, dass der Zugverkehr in der Ukraine möglichst aufrechterhalten wird. Dafür ist er selbst viel mit Zügen unterwegs, reist an verschiedene Orte, um mit Mitarbeitern zu sprechen, trifft Regierungsbeamte und hält ständigen Kontakt mit der ukrainischen Führung. Seine Frau und seine beiden kleinen Söhne hat der 37-Jährige zuletzt vor dem Beginn des russischen Angriffs vor drei Wochen gesehen.

Eisenbahn unterstützt im Ukraine-Krieg

Momentan gilt es, den Zugverkehr in der Ukraine zu gewährleisten. Denn das Schienennetz – eines der größten der Welt – ist zu einer Lebensader in dem Land geworden. Viele Flüchtlinge nutzen diese vielleicht letzte Möglichkeit, dem Krieg zu entkommen. Kamyshin schätzt, dass seine Mitarbeiter bisher 2,5 Millionen Menschen in Sicherheit gebracht haben. "Die Entscheidung, so viele Menschen wie möglich in die Züge zu lassen, war schwierig, weil jedes unglückliche Ereignis viel mehr Menschen betreffen würde", sagte Kamyshins Stellvertreter Oleksandr Pertsovskyi, der für den Passagierdienst des Unternehmens verantwortlich ist. Da die Züge also völlig überfüllt sind und zudem die Gefahr besteht, dass Gleisen beschädigt sind, fahren sie deutlich langsamer.

Zugleich liefert die Eisenbahn auch Tonnen von Hilfsgütern in umkämpfte Gebiete. Besonders groß ist die Not in der Gegend um die umkämpfte Hafenstadt Mariupol, wie es von ukrainischer Seite heißt. Eine Lastwagenkolonne mit Hilfsgütern versucht derzeit vergebens, in die Stadt zu gelangen. Die südostukrainische Hafenstadt ist seit zwei Wochen vollständig von russischen Truppen eingeschlossen. Nach Angaben von Hilfsorganisationen harren rund 400.000 Menschen ohne fließendes Wasser oder Heizung aus, Lebensmittel werden knapp. Auch in anderen ukrainischen Städten, etwa in Isjum im Nordosten des Landes, gilt die Lage als katastrophal.

Ukraine exportiert über die Bahn

Außerdem bringen die Züge Truppen an die Front und umgerüstete Waggons transportieren Verwundete in Krankenhäuser. Da die russische Armee die wichtigsten Häfen im Süden des Landes blockiert, über die normalerweise fast 95 Prozent der landwirtschaftlichen Erzeugnisse exportiert werden, disponiert Kamyshin um. "Anstelle der Seehäfen gehen wir nach Westen", sagte er. Die Eisenbahn exportiert somit alles, was die Ukraine unter den Kriegsbedingungen produzieren kann. Weiter erklärte Kamyshin: "Wir haben ein Programm zur Verlagerung der Produktion von Ost nach West gestartet. So können wir Menschen, Ideen, Pläne und vielleicht auch Maschinen verlagern, um eine neue Produktion im Westen aufzubauen."

In einem Telefonat mit dem polnischen Minister für Infrastruktur sagte der ukrainische Eisenbahnchef: "Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung. Aber ich habe auch eine Bitte: Helfen Sie uns, den Handel zwischen der Ukraine und Polen aufzubauen." Kamyshin möchte ein Joint Venture mit Polen gründen, um ukrainische Güter in den Westen zu exportieren.

Fahrpläne der Züge müssen wegen Angriffen andauernd geändert werden

Doch die Situation in der Ukraine ist gefährlich und unberechenbar. Aufgrund der russischen Angriffe werden die Fahrpläne der Züge jede Nacht für den kommenden Tag neu erstellt und an die Entwicklungen vor Ort angepasst. "Sie greifen täglich unsere Gleise an. Sie greifen die Bahnhöfe an. Unsere Leute riskieren ihr Leben. Sie stehen unter Beschuss", sagte Kamyshin. Seit dem Kriegsbeginn haben russische Truppen 33 Bahnmitarbeiter getötet, 24 weitere wurden verletzt. Die meisten Mitarbeiter haben keine militärische Erfahrung und dennoch müssen sie nun inmitten des russischen Beschusses Gleise reparieren.

Dass das System immer noch funktioniert, "ist für das ganze Land und auch für den Präsidenten überraschend", so Kamyshin. Schließlich ist in einem fahrenden Zug auch die Kommunikation aufgrund des oft schlechten oder ausbleibenden Mobilempfangs deutlich eingeschränkt. Zwar stellt Elon Musk der Ukraine seinen Satelliten-Internetdienst Starlink zur Verfügung, aber diesen würde das Eisenbahnunternehmen nur dann einschalten, wenn man absolut verzweifelt sei. Denn die Satelliten machen es dem Feind leichter, ihren Standort zu bestimmen, so die Erklärung.

Den Zugverkehr im Land einzustellen, ist für Kamyshin keine Option. "Wir werden die Züge so lange wie möglich am Laufen halten. Es gibt keine andere Möglichkeit für uns."

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Quellen: "BBC", "CNN", mit Material von dpa, afp

nk

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