Es war eine heiße Augustnacht. Die kleine, schwarzhaarige Frau mit den braunen Knopfaugen, dem knallroten Mund und dem Tattoo auf dem Oberarm nannte sich Susi. Sie bat den einsamen Barbesucher, sich neben sie zu setzen. Schon bald flüsterte sie ihm zärtliche Schweinereien ins Ohr. Tatsächlich endete die Nacht für Wolfgang Baumert* auch in der Horizontalen. Nur mit der Beule an seinem Hinterkopf hatte der 1,90 Meter-Mann nicht gerechnet.
Susi heißt eigentlich Helena Martin*, doch diese Lüge bewahrte die 46-Jährige arbeitlose Schneiderin nicht vor einer Diebstahls-Anklage: Am Ende jener Augustnacht ging sie mit Wolfgang Baumert zum Geldautomaten, griff blitzschnell ins Ausgabefach und flüchtete mit 500 Euro, sagt der Staatsanwalt.
Uta Eisenhardt
Uta Eisenhardt ist Berlinerin in dritter Generation. Seit fünf Jahren ist sie Gerichtsreporterin. In der stern.de-Kolumne "Icke muss vor Jericht" berichtet sie aus dem Berliner Amtsgericht, einem der größten Deutschlands. Jede Woche schreibt Eisenhardt über einen Prozess mit dem gewissen Etwas: manchmal traurig, manchmal kurios - immer spannend.
Helena Martin hat eine andere Erklärung für das Verschwinden des Geldes und für Baumerts Blessuren. Sie habe mit einer Bekannten in einer Bar gesessen. "Wir waren schon ein bisschen besoffen", sagt sie kokett zum Richter. Dann habe sich "jener Mann, der meint, dass Geld weggekommen ist", zu ihnen gesellt. Anschließend hätten sie zu dritt in seiner Wohnung weiter gefeiert. "Er wollte von mir - na, ja", umschreibt sie den Wunsch des Mannes nach Sex. Sie wollte nicht, da habe er ihr Geld angeboten. 500 Euro holte er vom Geldautomaten und gab sie ihr - freiwillig.
An der Wohnungstür habe sich der Mann plötzlich gescheut
Nach dem Besuch der Bankfiliale rannten sie zur Bushaltestelle. Dabei seien sie und Baumert zu Boden gestürzt - daher die Beule. Mit dem Bus sei das Paar zu ihr nach Hause gefahren, zwischendurch hätten sie ihre Bekannte verabschiedet. Doch an ihrer Wohnungstür habe der Mann plötzlich gescheut: "Nein, ich geh nicht rein", soll er gesagt haben, er wollte den Sex lieber in seiner Wohnung genießen. Als sie nach einem Toilettenbesuch zurück aus ihrer Wohnung kam, war der Mann weg. "Er hat nicht auf mich gewartet draußen", sagt die Angeklagte mit treuherzigem Augenaufschlag. "Das ist ja Pech", sagt der Richter. "Er war auch besoffen", entschuldigt Helena Martin das Missgeschick ihres Freiers.
Ob sie die Wohnung von Baumert ausgeräumt habe, will der Richter von ihr wissen. Es sei einiges entwendet worden. Außerdem wurden die Gläser abgespült, aus denen die beiden Frauen getrunken hatten. Das Baumertsche Glas dagegen blieb unabgewaschen stehen. Davon wüsste sie nichts, beteuert die Angeklagte.
Fröhlich betritt Helenas Opfer den Gerichtssaal. "Das ist ja hier wie bei Frau Salesch!", ruft der 43-jährige Elektromechaniker. Solche Vergleiche hören Richter oft, allerdings ungern. Ganz ohne Fernsehkameras soll der schlanke Graukopf nun seine Version über den Verlauf jener Augustnacht erzählen. Ob er nicht noch bleiben will, habe die kleine Susi den großen Mann in der Bar gefragt. Da war es kurz nach vier. Später habe er an einer Tankstelle noch Whisky und Cola besorgt. Zu dritt fuhren sie in seine Wohnung. Dort haben "wir uns noch einen gegeben", sagt der Zeuge. Er sei "richtig gut lustig gewesen", als Susi ihm signalisiert habe, sie wolle gern mit ihm allein sein. Baumert teilte diesen Wunsch und bot der überzähligen Frau an, ihr ein Taxi zu spendieren.
Ein teurer Abend
Doch der großzügige Mann hatte kein Bargeld mehr in seinem Portemonnaie. Zwar befanden sich in seiner Wohnung noch 300 Euro, die er unter seiner HiFi-Anlage deponiert hatte. Dieses Versteck wollte er seinen Besucherinnen nicht preisgeben. So kam er auf die Idee, mit den beiden zum Geldautomaten zu gehen. "Während ich den Automaten bediene, schnappt sie sich das Geld und ist weg". Er habe sich sofort nach ihr umgedreht und gedacht, die holst du locker wieder ein, sagt der Zeuge. "Doch in dem Moment ging bei mir das Licht aus". Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden. Sein Hemd war schmutzig, er hatte Kratzer im Gesicht, blaue Flecke an den Handgelenken und eine Beule am Hinterkopf.
Das war noch nicht alles: Seine Digitalkamera war verschwunden, ebenso sein verstecktes Geld. Als er dann am Nachmittag den Verlust seines Handys bemerkte, war damit bereits für 200 Euro telefoniert worden. Zuguter Letzt musste Baumert auch noch feststellen, dass ihm nicht nur Geld entrissen wurde, sondern kurz nach seinem Blackout weitere 500 Euro von seinem Konto abgehoben wurden. "Teurer Abend", sagt der Richter. Die Verteidigerin hat wenig Verständnis für diesen Leichtsinn. "Ich ging nicht davon aus, dass mir Frau Martin gefährlich werden kann", sagt der Zeuge. "Ich war eigentlich der Meinung, dass sie das nicht sieht, dass ich das Tastenfeld mit meinen 1,90 Meter abdecke."
Susi bleibt bockig
Immer wieder unterbricht die kleine Angeklagte den Bericht ihres Opfers mit einem trotzigen "Er lügt!". "Mäßigen Sie sich im Ton", sagt der Richter und fragt, ob sie die 500 Euro an Baumert zurück zahlen wolle. "Sie haben es für eine Dienstleistung kassiert, die Sie nicht erbracht haben, das haben Sie selbst zugegeben." Die Rückgabe könne er strafmildernd werten, ködert er die Angeklagte, die wegen Diebstahls und schweren Raubes bereits vorbestraft ist. Doch die bleibt bockig: "Ich habe kein Geld", sagt sie. Entnervt bittet ihre Verteidigerin um eine Pause, in der sie der frechen Schneiderin die Leviten liest. Dann gelobt die Angeklagte: "Ich kann ihm die 500 Euro zurück zahlen. Aber nicht mehr - ich habe nicht mehr von ihm gehabt."
Der bestohlene Baumert möchte von der Angeklagten noch gern wissen, wer mit seinem Handy telefonierte. "Die angerufenen Nummern sind gespeichert. Wenn du mir etwas sagen willst, habe ich zwei offene Ohren", bietet er der Angeklagten versöhnlich an. Die bleibt stur: "Ich weiß nicht", antwortet sie und den Namen ihrer Bekannten wisse sie auch nicht. "Ich kenne sie nur vom Sehen." Da ertönt - ganz wie bei Barbara Salesch - Protest aus dem Zuschauerraum: "Das sah an dem Abend aber ganz anders aus!", ruft der Inhaber jener Bar, in der sich die Angeklagte und ihr Opfer kennen lernten.
Hin- und hergerissen zwischen den Versionen
"Ich glaube der Angeklagten kein Wort", sagt der Staatsanwalt. "Welcher Freier legt so viel Geld - ein Drittel seines Monatslohns - hin und geht dann weg?" Er fordert zwei Monate auf Bewährung. Die Verteidigerin meint, sie sei hin- und hergerissen zwischen den beiden Versionen, denn "die Angeklagte ist gerissen genug. Wenn sie lügen wollte, würde sie nicht eine so verworrene Geschichte erzählen."
Doch der Richter glaubt nicht an die Geschichte vom verhinderten Geschlechtsverkehr. Für ihn steht fest: Die Angeklagte wollte Baumert ausnehmen. Darum füllte sie den müden Mann mit Alkohol ab. Nicht aufzuklären sei jedoch, warum ihn am Geldautomaten der Blackout ereilte. "War es der Alkohol? Waren es gut getimte K.O.-Tropfen? Oder war es die unbekannt gebliebene Freundin der Frau Martin, die ihn niederschlug?" Für den letzten und wahrscheinlichsten Fall hätte die Angeklagte an einem räuberischen Diebstahl mitgewirkt. Nur lässt sich das nicht nachweisen, denn der Geldautomat war nicht videoüberwacht.
Sechs Monate Haft auf Bewährung verhängt der Richter, die 500 Euro soll sie zurück zahlen, drei Jahre darf die Angeklagte nicht bei der Justiz auffallen. Nach der Verhandlung redet die Verteidigerin der kleinen Frau ins Gewissen: "Sie dürfen jetzt nichts mehr machen!"
*Namen von der Redaktion geändert