Am Tag nach dem Sprengstoffanschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund veröffentlichte die Börsenredaktion der ARD einen Artikel auf ihrer Internetseite. Er enthielt am Ende eine Beobachtung, deren Brisanz wahrscheinlich nicht einmal die Redakteure wahrnahmen, die sie recherchierten. Wie hätte man auch solch einen Wahnwitz erahnen können.
Eine "kleine Auffälligkeit aus Börsensicht" müsse noch erwähnt werden, hieß es in dem Artikel: "Es gibt verschiedene Derivate, mit denen auf fallende Kurse der BVB-Aktie gewettet werden kann. Auffällig ist, dass gestern vor dem Zeitpunkt des Anschlags mindestens zwei Put-Optionsscheine im Frankfurter Handel gekauft wurden, die sonst nur an der auf Privatanleger spezialisierten Stuttgarter Handelsplattform Euwax gehandelt werden. Beide Umsätze waren allerdings relativ gering. Auch wenn mit dem Kauf auf eine Niederlage des BVB gegen den AS Monaco gewettet wurde, wäre die Chance auf signifikante Kursgewinne mit diesen Papieren sehr gering gewesen."
Kein Fanatiker, der im Namen einer Religion Schrecken durch einen Anschlag verbreiten will
Die Meldung der Börsenredakteure hatte keine Chance auf Aufmerksamkeit in einer verunsicherten Republik, in der die Angst vor Terroranschlägen längst die Köpfe besetzt und Erwartungen diktiert, sobald eine Gewalttat bekannt wird. Mit ihr kommt der erste Gedanke wie ein Reflex: ein islamistischer Anschlag.
So war es auch, nachdem am 11. April drei Sprengsätze detonierten. Die Mannschaft von Borussia Dortmund war gerade auf dem Weg in den Signal Iduna Park, wo das Champions-League-Spiel gegen Monaco ausgetragen werden sollte.
Dabei hätte die Beobachtung der ARD-Börsenredaktion schon früher den Blick auf einen ungewöhnlichen Terroristen lenken können. Keinen, der töten will für das Paradies oder für 72 Jungfrauen. Keinen Fanatiker, der im Namen einer Religion Schrecken verbreiten will. Sondern, sollte der Verdacht des Bundesanwaltschaft zutreffen, einen Fanatiker der Gier, der mit dem Tod von Menschen Geld verdienen wollte.
Einen rätselhaften 28-Jährigen, der am 9. April in das Dortmunder Hotel "L’Arrivée" eincheckt. Schon einen Monat zuvor hat er dort übernachtet, dieses Mal wundern sich die Angestellten darüber, dass er ein Zimmer zur Straße hin haben will, normalerweise bevorzugen die Gäste Waldblick. Der etwa 1,70 Meter große Mann wirkt gepflegt, sein Scheitel ist sorgsam gezogen, sein Körper trainiert.
Sergej W. hat sich bei seinem Arbeitgeber krankgemeldet. Seit zehn Monaten ist er als Elektriker in einem Heizkraftwerk beschäftigt, welches das Tübinger Universitätsklinikum mit Wärme versorgt. Er soll in der Wohnung seiner Freundin in Rottenburg gewohnt haben, von dort fährt er sonst immer frühmorgens zur Arbeit.
Boris*, seit Jahren ein Freund, wusste nichts von Sergejs Reise nach Dortmund. Er sucht heute Erklärungen, forscht in seinem Gedächtnis nach Hinweisen auf den Irrsinn, auf den Sergej offenbar zusteuerte. Beteuert, er könne sich nicht erklären, wie das mit Sergej passiert sei. Er sagt: "Sergej war doch kein großer Fußballfan."
Zwei Tage nach Sergej W., am 11. April, checkt auch die Mannschaft von Borussia Dortmund in das Hotel im Süden der Stadt ein, es dient dem BVB seit Jahren als Stützpunkt vor Heimspielen.
"Sergej war doch kein großer Fußballfan"
Sergej W. loggt sich über das WLAN des Hotels ins Internet ein. Bei der Onlinebank Comdirect erwirbt er den Ermittlungen zufolge um 16.57 Uhr 15 000 Verkaufsoptionen auf die Aktie von Borussia Dortmund, für neun Cent das Stück. Es ist eine Wette auf den sinkenden Kurs der Aktie. Nach Ansicht der Ermittler eine Wette auf den Tod. Eine Woche zuvor hat er bei einer Bank einen Kredit über mehrere Zehntausend Euro aufgenommen.
Schon am Morgen dieses 11. April gab es verdächtige Transaktionen an den Börsen in Frankfurt und Stuttgart. Es wurden überraschend viele Optionsscheine auf die BVB-Aktie gehandelt. Sie tragen Kürzel wie DGQ1VV oder DGQ1VU oder DG7MN5, insgesamt gibt es 23 Arten davon. Es sind Spekulationspapiere, die ihren Käufern das Recht einräumen, die BVB-Aktie zu einem späteren Zeitpunkt für einen festgelegten Betrag zu verkaufen. Fällt der Kurs unter diesen Wert, kann der Zocker Geld verdienen. Fällt der Aktienwert nicht, verliert er unter Umständen seinen Einsatz.
Zwischen 11.12 Uhr und 11.32 Uhr verzeichnen die Systeme vier auffällige Geschäfte in Frankfurt, teilweise sind es die ersten mit diesen Papieren seit Wochen. Jeweils werden 15.000 Optionsscheine gekauft, zu Preisen zwischen 4,3 und 18 Cent. Gesamtpreis rund 6000 Euro. Die Staatsanwaltschaft prüft noch, ob Sergej W. auch hinter diesen Kauforders steht.
Der Mechanismus funktioniert wie folgt: Um 11.16 Uhr kostete das Papier DGQ1VV beispielsweise 18 Cent, das macht bei 15 000 Stück 2700 Euro. Es gibt dem Inhaber das Recht, die BVB-Aktie bis zum 16. Juni für 5,20 Euro das Stück zu verkaufen. Das ist riskant, seit dem Februar war die Aktie immer höher notiert. Erst ab einem Kurssturz von über zehn Prozent verdient der Zocker überhaupt mit dem Papier. Bei einem erheblichen Kurssturz von 50 Prozent bekäme er 36 000 Euro ausgezahlt.
Auch in Stuttgart kam es um 11.19 Uhr zu einem auffälligen Geschäft mit 16.000 Optionsscheinen, später am Nachmittag um 15.40 Uhr noch mal mit 5000 Stück.
Der Kurs der Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA steht am Nachmittag vor dem Anschlag bei 5,61 Euro. Borussia Dortmund ist ein relativ stabiles Unternehmen. Die Aktie ist vor allem ein Papier für glühende Fans, die in schwarz-gelber Bettwäsche schlafen. Sie ist mehr ein Bekenntnis als ein Spekulationsobjekt.
Sergejs Freund Boris ist zu diesem Zeitpunkt in Russland. Sergej kennt ihn sein halbes Leben lang. Seit er 2003, damals 14 Jahre alt, mit seinen Eltern und der älteren Schwester auswanderte, nur weg aus dem Industriemoloch Tscheljabinsk am Ural, hinein in ein besseres Leben in Deutschland. Es verschlägt die Familie in den Schwarzwald. Dort trifft Sergej auf Boris. Auch der stammt aus einer russlanddeutschen Familie, das verbindet die beiden Jungen im kleinstädtischen Freudenstadt.
Er war cool, man konnte Spaß mit ihm haben
Gemeinsam besuchen sie die Hauptschule in Baiersbronn. Während Boris heute noch Probleme mit der deutschen Sprache hat, lernt Sergej W. schnell, bringt seinen Eltern gute Noten nach Hause. Sergej und Boris üben zusammen für die Schule, fahren zu den Wasserfällen nahe der Stadt, feiern zusammen Silvester. Boris sagt: "Sergej ist ein guter Mann. Immer freundlich, immer nett. Keiner, der Ärger sucht. Keiner, der aggressiv ist, Stress macht. Es hat nichts Schlechtes an ihm gegeben. Er war cool, man konnte Spaß mit ihm haben. Vielleicht hat ihn jemand gezwungen. Die Bomben haben nicht richtig explodiert, wurden schlecht gezündet. Vielleicht wollte er das alles nicht und hat es absichtlich so gemacht."

Es ist kurz nach 19 Uhr an jenem 11. April, als die Spieler des BVB das Hotel verlassen. An Autogrammjägern vorbei bahnen sie sich den Weg in den Bus. Unter ihnen auch Mittelfeldspieler Nuri Sahin. Sahin ist 28 Jahre alt, so alt wie Sergej W. Sahin setzt sich in die vorletzte Reihe, hinter ihm nimmt Innenverteidiger Marc Bartra Platz. Vorn sitzen die Trainer. Der Fahrer startet den Bus. Die Fahrt ins Stadion dauert gewöhnlich 20 Minuten.
Bis 2015 besucht Sergej W. die Berufsschule. Die Heinrich-Schickhardt-Schule liegt nur zehn Minuten Fußweg von der Wohnung seiner Eltern entfernt, ein grünes Gebäude, das zu einem weitläufigen Gelände mit mehreren Schulen gehört. Zum Abschluss überreicht ihm die Schulleiterin einen Schulpreis für Elektrotechnik. Mit einem Schnitt von 1,5 ist er Jahrgangsbester. Der "Schwarzwälder Bote" berichtet: "Die stellvertretende Schulleiterin Ursula Wolf begrüßte die Ehrengäste sowie Schüler und Eltern. Sie beglückwünschte die Schüler zu ihren Leistungen und betonte, dass im Leben jeder seinen eigenen Weg finden müsse. Ob dieser die Autobahn oder ein Trampelpfad sei, ob das Ziel direkt oder auf verschlungenen Pfaden erreicht würde, sei unwichtig, solange die Richtung stimme, so Wolf."
Dass bei Sergej W. die Richtung stimmt, bezweifelt niemand. Ein Arbeitskollege von damals erinnert sich: "Immer nett und höflich war er. Nicht direkt zurückgezogen, aber sehr zurückhaltend."
Trotz der guten Noten, trotz aller Anstrengungen macht Sergej W. die Erfahrung, dass sein Aufstieg Grenzen hat. Eine Anstellung in seinem Ausbildungsbetrieb bekommt er nicht, keiner aus dem Jahrgang – "aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage" des Leiterplatten- und Energiespeicherherstellers, wie es heißt. Elektrotechniker im Biomasseheizkraftwerk, soll es das gewesen sein?
Der Mannschaftsbus des BVB verlässt das Hotelgelände. Langsam rollt er in den Schirrmannweg.
"Er konnte sich unsichtbar machen"
Zu diesem Zeitpunkt steht Sergej W. wahrscheinlich am Fenster seines Hotelzimmers und blickt auf die Straße. In einer Hecke soll er nach den Erkenntnissen der Ermittler drei Sprengsätze platziert haben, der vordere und der hintere in Bodennähe, der mittlere in einem Meter Höhe. Die Bomben sind gefüllt mit Metallstiften, sieben Zentimeter lang, 15 Gramm schwer. Sie sind mit Empfangsmodulen ausgestattet, können per Handy gezündet werden.
Nur noch wenige Sekunden.
Kein Mensch scheint zu Sergej W.s Innerstem vorgedrungen zu sein, so verschlossen bleibt er; auch in den Monaten vor der Wahnsinnstat kommt der Wahn niemandem in den Sinn, der ihm begegnet.
Bekannte über Sergej: "schwer einzuordnen", "unauffällig", "zurückhaltend", "eher introvertiert" . Ein Nachbar: "Er konnte sich unsichtbar machen."
Pastor Christoph Fischer von der "Volksmission entschiedener Christen", einer Freikirche, die Sergej W. eine Zeit lang mit seiner damaligen Freundin besucht hatte, erzählt in seiner Predigt am vergangenen Sonntag von gescheiterten Helden, darüber, wie ihnen der Glaube helfen kann, wenn sie erkennen, dass sie nicht die Helden sind, die sie so gern wären. Später legt er Wert auf die Feststellung, dass Sergej W. nie ein festes Mitglied der Gemeinde gewesen sei.
Philipp*, ein Kollege aus der Lehre, traf ihn damals in den Mittagspausen. Er erinnert sich: "Ich sah, dass er oft alleine war, und habe mich ihm zugewandt, ich hatte auch nicht den besten Kontakt zu den anderen Azubis." Sergej habe sehr viel gelernt, war immer strebsam und loyal. Mit ihm konnte man über Sportwetten reden. Bei Betfair, der weltweit größten Online-Wettbörse für Sportwetten, habe Sergej damals gern gezockt. Feiern hingegen war nicht so sein Ding, er ging gern in das "Bonaparte", die Kneipe im Stadtbahnhof. Trank aber kaum Alkohol, selbst bei den Weihnachtsfeiern im Betrieb. Sergejs Hobby? Training im Fitnessstudio.
Und mit Elektronik kennt er sich aus. Seinen neunmonatigen Grundwehrdienst leistete er 2008 beim Lazarettregiment in Dornstadt ab, er war zuständig für die Instandhaltung der Elektrotechnik.
Die Sprengsätze explodieren. BVB-Spieler Nuri Sahin glaubt im ersten Moment, jemand habe einen Stein gegen den Bus geworfen. Glassplitter und Metallteile fliegen durch den Bus. Ein Metallstift bohrt sich in die Kopfstütze eines Sitzes. Andere Metallstifte schießen bis zu 250 Meter weit, solch eine Wucht entfaltet die Detonation.
"Weiterfahren!" BVB-Profis wollen bloß weg
Nuri Sahin blickt hinter sich. Sieht Marc Bartra bluten. Riecht, dass etwas explodiert sein muss. Denkt, da ist was Schlimmes. Die Spieler rufen voller Panik: "Weiterfahren!" Bloß weg.
Ein paar Meter weiter hält der Bus, die Spieler steigen aus. Nuri Sahin ruft seine Mutter an: "Da kommen bald Nachrichten über uns, aber mir geht es gut, mir ist nichts passiert." Verteidiger Marc Bartra wird ins Krankenhaus gebracht. Er wurde durch eine zersplitterte Fensterscheibe am Arm und an der Hand verletzt. Auch ein Motorradpolizist erleidet Verletzungen.
Im Hotel schrecken die Gäste nach den Explosionen auf, rennen aus ihren Zimmern. Sergej W. geht ins Restaurant, bestellt sich ein Steak.
Zehn Tage dauert es, bis er festgenommen wird, als er seinen Arbeitsplatz in Tübingen erreicht. Im Verlauf dieser Tage nehmen die Sicherheitsbehörden zwei Tatverdächtige aus dem islamistischen Spektrum fest. Gleich drei vermeintliche Bekennerschreiben soll Sergej W. am Tatort zurückgelassen haben. Er wollte, darauf deuten die Ermittlungen hin, sich die Angst vor islamistischen Attentaten zunutze machen, um seinen Anschlag als weiteres Schauspiel auf der Bühne des Terrors zu tarnen. Vielleicht war er auch einige Tage lang siegessicher, als er erfuhr, dass das Champions-League-Spiel verschoben wurde, als er hörte, die Dortmunder Mannschaft müsse am nächsten Tag wieder antreten, um dem Terror zu trotzen. Vielleicht wähnte er sich in Sicherheit, als noch weitere Bekennerschreiben von Trittbrettfahrern auftauchten.
Wenn die Vorwürfe der Bundesanwaltschaft stimmen, ist Sergej W. nicht nur ein kenntnisreicher Techniker, sondern auch ein außerordentlicher Dilettant. Einer, der monatelang die Tat vorbereitet und das Gelände auskundschaftet, aber dann am Tag des Anschlags im Hotel Optionsscheine ordert, mit denen er auf den Kursverfall des BVB wettet, was die Polizei schnell über die IP-Adresse des "L’Arrivée" herausfindet. Einer, der in der Lage ist, eine Bombe mit Fernzündung herzustellen, aber kurz zuvor bei seiner Hausbank unter seinem Namen einen Kredit aufnimmt, um eine Wette zu finanzieren, für die er offenbar bereit ist, 20 Menschen zu töten. Und das für einen Gewinn von vielleicht 100.000 Euro. Ist Sergej W. ein Größenwahnsinniger, der so gefangen ist in seiner Selbstüberschätzung, dass er glaubt, über Leichen gehen zu können, dass er es nicht für nötig hält, Spuren zu verwischen? Oder steckt noch etwas anderes hinter dieser Tat?
"Er ist nicht arrogant, nicht eingebildet, nicht der Ich-bin-es-Typ"
Für alle, die ihn zu kennen glaubten, ist er zum Fremden geworden. Warum sollte er so etwas tun? Nachbarn erzählen, er habe sich mit Sportwetten verschuldet, habe öfter mit Aktien spekuliert. Aus Statussymbolen habe er sich aber nichts gemacht, erzählen Bekannte, nie sah man ihn in teurer Markenkleidung. Ein Nachbar ist ratlos: "Er ist nicht arrogant, nicht eingebildet, nicht der Ich-bin-es-Typ."
Ein anderer erinnert sich, wie er Sergej W. zu Ostern sah, er stieg aus seinem roten Lupo. "Er kam mir noch zurückhaltender vor, den Blick auf den Boden gerichtet." Damals habe er sich nichts dabei gedacht. Ein Geständnis hat Sergej W. nicht abgelegt. Es ist nicht bekannt, ob er sich überhaupt zur Tat geäußert hat.
Nuri Sahin sagt, er erinnere sich, wie er im Bus in das Gesicht seines Sitznachbarn Marcel Schmelzer blickte. "Ich werde Schmelles Gesichtsausdruck nie mehr im Leben vergessen. Wir haben so etwas schon oft im Fernsehen gesehen, es war immer weit weg. Und jetzt haben wir so etwas am eigenen Leib erfahren."
Der Kurs der Aktie von Borussia Dortmund hat in den Tagen nach dem Anschlag nie mehr als 40 Cent verloren. Anfang der Woche stand sie bei 5,62 Euro, sogar etwas höher als vor dem Anschlag.
*Name von der Redaktion geändert
Dies ist eine Reportage aus dem aktuellen stern. Die Bundesanwaltschaft beschuldigt Sergej W., drei Sprengsätze neben dem Mannschaftsbus des Vereins gezündet zu haben. W. selbst soll den Tatvorwürfen widersprochen haben.