Spektakulärer Ausbruch in New York Liebesdienste einer Gefängnisschneiderin

Ratlose Blicke
Ratlose Gesichter am Ausstiegsort der Flüchtigen
© New York State Govenor's Office
Sie sind eiskalt, skrupellos und haben nichts zu verlieren: Die filmreife Flucht der Mörder Richard Matt und David Sweat hält die USA in Atem.  Es ist der Höhepunkt ihrer langen kriminellen Karrieren - geprägt von Drogen und Gewalt.

Joyce Mitchell, 51, genannt Tilly, ist keine attraktive Frau. Ihr Gesicht ist rund, ihr Gang leicht gebeugt, die blond gefärbten Haare hängen strähnig auf ihre Schultern. Bekannte sagen ihr ein großes Herz nach, und dass sie sehr naiv sei. Sie erzählen auch, wie sehr sich Tilly schon immer zu irgendwelchen fremden Macho-Typen hingezogen fühlte. Obwohl sie verheiratet ist. Dieser Tage wird oft über ihre Affäre mit einem Ex-Kollegen gesprochen, den sie immer in der Mittagspause auf den Bahngleisen hinter ihrer ehemaligen Firma traf. Und auch seit Tilly Mitchell in der Schneiderei des Hochsicherheitsgefängnisses Dannemora im Norden von New York State arbeitete, gab es stets Gerüchte um ein Verhältnis zu einem der Gefangenen.

Seit vergangener Woche sitzt Tilly Mitchell nun selbst hinter Gittern. Sie steht im Verdacht, jene Komplizin gewesen zu sein, die den beiden Mördern Richard Matt und David Sweat bei ihrem spektakulären Ausbruch aus Dannemora half. Schon vor über einem Monat soll sie ihnen eine Säge, Schraubenzieher, Hammer und Meißel in die Zellen geschmuggelt haben. Damit durchbrachen Matt und Sweat die Wand hinter ihren Betten, dann sägten sie ein Loch in ein stählernes Abwasserrohr und krochen in die Freiheit. Sie verschwanden so unbemerkt, dass bis heute nicht feststeht, ob sie schon am Abend des 5. oder erst am Morgen des 6. Juni entkamen. Als die Wachen ihre Zellen betraten, fanden sie nur noch ein paar Klamotten, mit denen die Entflohenen ihre Bettdecken gepolstert hatten, und auf dem angesägten Abwasserrohr heftete unter einem kleinen Magnet ein gelbes Zettelchen mit einem grinsenden Strichmännchen. Darunter stand: Schönen Tag noch.

Gruß an die Polizei
Die geflohenen Häftlinge hinterließen den Ermittlern eine Nachricht: "Habt einen schönen Tag!"
© New York State Govenor's Office

Es ist die letzte Spur der beiden Männer, die den Norden von New York seit Wochen in Atem halten. Die Bewohner in der Umgebung des Gefängnisses leben in solcher Angst, dass viele Mütter ihre Kinder bis heute nicht zur Schule lassen. Manche haben sich sogar bewaffnet. Doch mit jedem Tag wächst die Wahrscheinlichkeit, dass Matt und Sweat längst weit weg sind aus New York. Die Polizei suchte zunächst mit 800 Beamten, seit gestern sind es nur noch 600. Vermutlich verstecken sich Matt und Sweat irgendwo in den Wäldern des nahegelegenen Kanada. Die Polizei warnt indessen täglich in den Medien davor, den Ausbrechern zu helfen. "Denn die haben nichts gemein mit den sympathischen Typen aus Filmen wie 'Flucht von Alcatraz'", so ein Police Officer. "Das sind eiskalte Killer."

Spitzname war "Eisensäge"

Richard Matt, 48, verbrachte seit seinem 19. Lebensjahr nur vier Jahre in Freiheit. Er wurde wegen Mordes an seinem ehemaligen Chef zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Sein Spitzname in Dannemora war "Eisensäge", weil er die Leiche mit einer solchen zerteilt hatte. David Sweat, 35, wurde mit 17 zum ersten Mal eingesperrt und hat seitdem ebenfalls den allergrößten Teil seines Lebens hinter Gittern zugebracht. Für den Mord an einem Polizisten bekam er Lebenslänglich, ohne die Aussicht, das Gefängnis je wieder verlassen zu können. Hätte er in seinem Prozess nicht gestanden, wäre er mit Sicherheit zum Tode verurteilt worden. Matt ist ein massiger Typ, Sweat dagegen eher schmächtig, beide Männer haben nichts zu verlieren. Das macht sie so brandgefährlich. Gewalt gehörte schon in der Kindheit zu ihrem Dasein wie die Luft zum Atmen.

 

Rohr in die Freiheit
Durch dieses Rohr gelangten Matt und Sweat in die Freiheit
© New York State Govenor's Office

David Sweat wurde von seiner Mutter alleine großgezogen, er wuchs in Binghamton im Bundesstaat New York auf. Nachbarn erinnern sich, dass seine Mutter viel trank und ständig Partys feierte. Mit neun warf der kleine David zum ersten Mal mit Messern nach ihr, und einmal mit einem Schaukelstuhl. Da schickte die Mutter ihn zu ihrem Bruder nach Florida, auf dass sich der Junge bessere. Doch David stahl das Auto seiner Tante und machte sich davon. Mit 16 wurde er nach dem Einbruch in ein Vereinsheim erwischt. Er und ein Komplize hatten eine Angestellte überwältigt und in einen Schrank gesperrt. Als der Richter fragte, wie Sweat auf die "idiotische Idee" gekommen sei, erwiderte der Teenager: "Ich wollte cool vor meinen Freunden aussehen."

Sweat spionierte seine Ziele und Opfer immer genau aus und ging bei allen Taten nach Plan vor. Seinen Unterhalt auf ehrliche Weise zu verdienen, zog er offensichtlich nie in Erwägung. Während seiner Zeit im Jugendgefängnis fanden die Wachen eine Liste in seiner Zelle mit Straftaten für die Zukunft. Engen Kontakt hielt Sweat eigentlich immer nur zu seiner Mutter. Auch aus Dannemora schrieb er ihr regelmäßig. "Wir gehen davon aus, dass er sich irgendwann mit ihr in Verbindung setzt", so ein Sprecher der Polizei.

“Er hat kein Herz, und er hat keine Seele“

Zum Mörder wurde Sweat am 4. Juli 2002. Wieder war er mit einem Komplizen unterwegs. Wieder begingen sie einen Einbruch. Diesmal in ein Waffengeschäft, dessen Tür sie mit einem gestohlenen Pick Up einrammten. Als sie ihre Beute in einem Parkhaus in einen anderen Wagen umladen wollten, wurden sie von einem Streifenbeamten beobachtet. Die Männer schossen den Polizisten mit mehreren Kugeln nieder. Als Sweat daraufhin feststellte, dass ihr Opfer noch lebte, überfuhr er den Beamten mit dem Wagen. Es war Sweats damalige Freundin die der Polizei half, ihn hinter Gitter zu bringen.

 

Loch in der Wand
Hinter ihren Betten hämmerten und sägten sich die Häftlinge einen Weg nach Draußen
© New York State Govenor's Office

Drahtzieher der spektakulären Flucht aus Dannemora dürfte jedoch der ältere Richard Matt gewesen sein, oder wie ihn seine Freunde nennen: Rick. In seiner Akte ist vermerkt: Außergewöhnlich Intelligent. Er gilt als gefühl- und gewissenlos. Police Detective Gabriel DiBernardo, der wegen Mordes gegen ihn ermittelte, sagt: “Er hat kein Herz, und er hat keine Seele.“

Richard Matt wuchs in dem 80.000-Seelen-Ort Todawanda in der Nähe von Buffalo auf, sein Vater war ein Gewohnheitskrimineller, der irgendwann spurlos verschwand. Daraufhin landete der Junge im Heim. Einmal flüchtete er auf einem Pferd, und mit 14 versuchte er, ein Hausboot zu klauen. Bis in die 90er Jahre, wurde er acht Mal festgenommen, meistens wegen Betrugs oder Einbruchs. Er war ein hübscher dunkelhaariger Bengel, der den Mädchen den Kopf verdrehte und es immer verstand, nett zu reden. Und so war fast jeder in seinem Umfeld bereit, ihm seine Eskapaden zu verzeihen. Auch bei der Polizei wusste Matt sich Freunde zu machen, indem er sich als Spitzel verdingte. „Matt hat viele Dinge für mich erledigt“, gab sich sein ehemaliger Führungsbeamter der New York Times gegenüber wortkarg.

Die merkwürdigste Geschichte seiner Informanten-Laufbahn passierte, während Matt wegen Urkundenfälschung im Gefängnis von Erie County einsaß. Dort lernte er einen reichen Kalifornier kennen, der mit einer Nachfahrin aus dem berühmten Warner Brothers-Filmkonzern verheiratet war. Der Mann bot an, Matts Kaution in Höhe von 100.000 Dollar zu zahlen, wenn der dafür seine Gattin beseitige. Matt ließ sich auf den Handel ein, doch in Freiheit ging er zur Polizei.

Drogen machten Matt zum Monster

1997 schließlich, mit knapp 30, zeigte Richard Matt sein wahres Gesicht. Sein ehemaliger Führungsbeamter sagt, erst Drogen hätten aus dem notorischen Einbrecher, der ihn mit Informationen versorgte, ein brutales Monster gemacht. Zu jener Zeit versuchte Richard Matt zunächst sein Leben mit einem geregelten Job in Ordnung zu bringen. Er begann für einen Lebensmittelhandel zu arbeiten. Doch der 76-jährige Eigentümer William Rickerson feuerte ihn ziemlich schnell. Rickerson war kein reicher Mann, dennoch glaubte Matt, es würde sich lohnen, ihn auszurauben.

Mitten in der Nacht lauerte er ihm mit einem Komplizen auf. Er schlug Rickerson zusammen. Doch Informationen, wo der alte Mann Geld versteckt haben könnte, bekam er nicht. Dann warf er Rickerson in den Kofferraum des Wagens und fuhr mit ihm 27 Stunden lang bis nach Ohio und zurück. Nach Aussagen des Komplizen war Matt völlig außer sich vor Wut, einmal habe er zwischendurch den Kofferraum geöffnet und seinem ehemaligen Boss einfach so einen Finger gebrochen. Am Ende brach er ihm das Genick. Die Leiche zersägte er und warf die einzelnen Teile in den Niagara Fluss. William Rickerson musste für 100 Dollar, ein paar Kreditkarten und einen Ehering sterben.

 

Eine Welt hinter den Zellen
Über diesen Gang hinter den Zellen gelang den Häftlingen die Flucht
© New York State Govenor's Office

Matt flüchtete nach Mexiko. Dort wurde er nach einem weiteren Raubmord an einem Ingenieur gefasst und saß neun Jahre im Gefängnis. Es heißt, ein missglückter Ausbruchversuch hätte sein einst sympathisches Äußeres ruiniert. Wenn Matt heute lächelt, präsentiert er eine Reihe Schneidezähne aus Metall. „Da gefriert einem das Blut“, so ein Polizist. 2007 wurde er an die USA ausgeliefert, wo ihm der Prozess wegen Mordes an seinem ehemaligen Chef gemacht wurde. Aus Sorge, Matt könnte seine Flucht geplant haben, lauerten vor dem Gerichtsgebäudes Scharfschützen, und der Angeklagte trug einen Gürtel, der per Knopfdruck unter Strom gesetzt werden konnte.

Was die Gefängnisangestellte Tilly Mitchell an Richard Matt und David Sweat so sympathisch fand, hat sie noch nicht verraten. In ihrer ersten Anhörung vor Gericht plädierte sie "nicht schuldig". Angeblich hatte sie zu beiden Gefangenen eine sexuelle Beziehung. Die Ermittler gehen davon aus, dass Tilly Mitchell bei dem Ausbruch eigentlich eine noch viel wichtigere Rolle spielen sollte. Es sei geplant gewesen, dass sie einen Fluchtwagen steuert. Doch dann sind ihr offenbar die Nerven durchgegangen – und statt Matt und Sweat zu treffen, ließ sie sich in der Nacht des Ausbruchs mit Panikattacken ins Krankenhaus einweisen. 

Für ihren mutmaßlichen Liebesdienst muss Tilly Mitchell mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren rechnen. Ihr Mann besuchte sie gestern im Gefängnis und versicherte, er stehe trotz allem zu ihr. Der leitende Sheriff David Favro glaubt, dass sie am Ende einen Rückzieher machte, habe Tilly Mitchell das Leben gerettet. „Wäre sie mit den beiden geflüchtet, sie hätten sie umgebracht. Da bin ich sicher. Sie wäre doch nur Ballast gewesen.“

 

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