Die Bodenfelder machen sich Vorwürfe: Hätten sie wenigstens eines der beiden Verbrechen verhindern können, wenn sie ein klein wenig misstrauischer gewesen wären? Wenn sie zur richtigen Zeit die richtige Frage gestellt hätten? "Das wird man nicht los", sagt Yvonne L., Mutter einer siebenjährigen Tochter. Sie war die Letzte, die den 13-jährigen Tobias lebend gesehen hatte. Der Junge wurde in den Abendstunden des 20. November 2010 getötet, so wie fünf Tage zuvor die 14-jährige Nina. Beide Taten gestand der 26-jährige Jan O. bereits vor dem Landgericht Göttingen.
Am heutigen vierten Verhandlungstag beschreibt Yvonne L. die Situation, in der sie an jenem Samstag Tobias und seinem mutmaßlichen Mörder begegnete. Bis zum Abend hatte die Mitarbeiterin eines Versandunternehmens die nächste Tour geplant. Nach 20 Uhr fuhr sie mit einem Lieferwagen nach Hause. Zuerst überholte sie einen Mann mit dunkler, wenig gepflegter Kleidung. Jan O. schien es eilig zu haben, genauso wie der vor ihm befindliche Inlineskater. An den zierlichen Jungen kann sich die Zeugin noch sehr gut erinnern. Er fuhr ziemlich weit auf der schmalen Straße: "Fast hätte ich ihn erwischt."
Angestrengt sei er "den steilen Berg hoch gehechtet. "Er ist sehr gestresst gefahren", erinnert sich die Zeugin. "Könnte der Mann den Inlineskater verfolgt haben", fragt der Vorsitzende Richter Ralf Günther. "Im Nachhinein ja", bekommt er zur Antwort. Doch damals brachte Yvonne L. die beiden Personen nicht miteinander in Verbindung. Sie wunderte sich nur: "So spät bewegt sich dort fast niemand." Sie habe aber "nicht gesehen, dass der Junge in Not ist". Andernfalls hätte sie dem Kind sofort angeboten, es nach Hause zu bringen. Damals wusste sie nicht einmal, dass es sich bei dem Skater um Tobias handelte, den sie doch kannte, so wie in einem 3700-Einwohner-Dorf eben jeder jeden kennt.
Zeugin verdrängt Hilferufe
Selbst Jan O. sei ihr vorher schon einmal über den Weg gelaufen, als es wieder einmal Ärger mit ihren Nachbarinnen gab, zwei jungen Frauen, die gerade aus dem in der Nähe befindlichen Therapiehaus "Amelith" gezogen waren. Die beiden versuchten in der über ihr befindlichen Wohnung einen Neustart. Das klappte nur wenige Tage lang. "Dann ging ganz schön der Punk ab", so die Zeugin. Sprich, alkoholselige Partys wurden bis tief in die Nacht gefeiert. Auf einer solchen soll auch der ehemalige Therapiehaus-Bewohner Jan O. gewesen sein, so Yvonne L.: "Er kam gerade die Treppe herunter. Ich habe mich dann im Hausflur mit ihm in die Haare bekommen."
Auch Astrid H. macht sich Vorwürfe. An jenem schicksalhaften Samstag hörte sie einen kurzen Schrei. "Hilfe, Hilfe" habe jemand gerufen, berichtete sie einige Tage später der Polizei. "Dann war alles still, alles wieder normal." Die Wäschereiangestellte hat drei Kinder, ihre Tochter ging in die Parallelklasse von Tobias. Heute erzählt sie dem Gericht, sie habe nur ein kurzes "Ah!" gehört: "Wenn meine Kinder im Garten spielen, schreien die auch manchmal so." Der Vorsitzende Richter macht die Zeugin auf den Unterschied von "Hilfe, Hilfe" und "Ah" aufmerksam. Die Begründung, die er erhält, macht betroffen: "Ich habe mir so oft den Kopf darüber zerbrochen. Man versucht ja, so etwas auch zu verdrängen."
Rettungssanitäter und Arzt bemerken nichts
Vorwürfe anderer Art wurden an einen Rettungssanitäter und einen Arzt heran getragen: Wie man so einem Menschen überhaupt helfen könne? "Ich habe meine ärztliche Pflicht erfüllt", sagt der Mediziner vor Gericht. Im Krankenhaus behandelte er Jan O. an der linken Hand. Die hatte er sich verletzt, während er auf den Jungen einstach. Nach dem Mord habe er die Rettung gerufen. Den Sanitätern, die ihn damals ins Krankenhaus fuhren, erklärte er, bei Freunden getrunken und gespielt zu haben. Ziel des gefährlichen Spiels sei es, mit dem Küchenmesser lediglich die Zwischenräume der gespreizten Linken zu erwischen. Er aber habe sich verletzt. "Das war eine schlüssige Geschichte", sagt der Rettungssanitäter im Zeugenstand.
Er bemerkte, wie aufgeregt der Patient war. Das fiel auch dem Arzt auf: "Er hat ein bisschen zu viel geredet, zu viel versucht zu erklären. Normalerweise sprechen verletzte Menschen nicht so viel."