Ist das der Durchbruch nach Jahren vergeblicher Ermittlungen? Im Fall des seit 2015 vermissten Mädchens Inga prüft die Staatsanwaltschaft Stendal, ob für das Verschwinden der Mordverdächtige im Fall Maddie verantwortlich ist.
Die im Fall Maddie ermittelnde Staatsanwaltschaft Braunschweig wollte zu dem Verdacht auf stern-Anfrage nicht offiziell Stellung nehmen. Die Staatsanwaltschaft Stendal, die für den Vermisstenfall Inga zuständig ist, bestätigte der Nachrichtenagentur DPA jedoch, dass sie Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen und damit einen Anfangsverdacht gegen den 43-jährigen Christian B. prüfe. Weitere Details wurden nicht genannt.
Zusammenhang zwischen den Fällen Maddie und Inga?
Inga verschwindet am 2. Mai 2015 spurlos von dem abgelegenen Wilhelmshof im Landkreis Stendal, wo sie mit ihrer Familie zu Besuch war – der Vermisstenfall sorgt wochenlang bundesweit für Schlagzeilen und ist bis heute ungeklärt.
Über den Verdacht gegen B. berichten an diesem Freitag zunächst die "Magdeburger Volkstimme" und der "Spiegel". Die Medien berufen sich auf Ermittlungsunterlagen und führen mehrere Indizien auf, die für die Begehung der Tat durch den 43-Jährigen sprechen:
Das ZDF strahlt im Jahr 2013 einen Beitrag zum Verschwinden von Madeleine McCann aus, veröffentlicht Phantombilder eines möglichen Täters. Ein Zeuge gibt einen Hinweis auf Christian B. – er lebt zum Zeitpunkt von Madeleines Verschwinden in der Nähe der Hotelanlage in Portugal, in der die Familie McCann Urlaub 2007 macht. "Die damaligen Informationen reichten aber noch nicht für Ermittlungen aus. Ganz zu schweigen von einer Festnahme“, sagt ein BKA-Ermittler am vergangenen Mittwoch.

Am 23. Februar 2016 erhält der rund drei Jahre alte Hinweis neue Brisanz: Laut "Volksstimme" entdeckt ein Spaziergänger auf einer verwahrlosten Industriebrache in Neuwegersleben (Landkreis Börde, Sachsen-Anhalt) Knochen, alarmiert die Polizei. Sie stellen sich später als die Überreste eines Hundes heraus. In einer Tüte unter den Knochen wird außerdem ein Datenstick entdeckt. Darauf: Aufnahmen, die sexualisierte Gewalt gegen Kinder zeigen und Fotos des Grundstücksbesitzers.
Die Ermittler erfahren: Das Gelände gehört Christian B. – und es ist nur rund 90 Minuten von dem Ort entfernt, an dem Inga rund neun Monate zuvor spurlos verschwindet. Alarmiert von der Vorgeschichte nehmen auch Beamte, die zum Verschwinden der damals Fünfjährigen ermitteln, an der Durchsuchung teil.

Und die Ermittler erfahren noch etwas: Zeugen erinnern sich, dass B. sich bis zum 6. Mai 2015 monatelang täglich für einige Stunden auf seinem Areal in Neuwegersleben aufhält. Was er dort macht, ist nicht bekannt. Er pendelt dafür jeden Tag zwischen seinem Wohnort Braunschweig und der Börde, rund 70 Kilometer pro Weg.
Am 1. Mai 2015, einen Tag vor Ingas Verschwinden, ist er mit einem Kleinbus eines Freundes an der A2 bei Helmstedt in einen Parkplatzrempler verwickelt. Für den 2. Mai soll B. kein Alibi haben. Die Spur wird jedoch nicht weiter verfolgt – die Ermittler sehen seinerzeit offenbar keinen Zusammenhang mit dem Fall Inga.
Die Nähe zwischen dem Grundstück des Mordverdächtigen und dem Ort des Verschwindens von Inga sowie der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Aufenhalt des Mannes in Mitteldeutschland und dem Beginn des Vermisstenfalls sind nur zwei Indizien gegen Christian B.
Maddie oder Madeleine?
Das Verschwinden von Madeleine McCann geht seit 2007 als "Fall Maddie" um die Welt. Die Eltern des kleinen Mädchens selbst nannten und nennen ihre Tochter allerdings stets beim vollen Namen. Die Abkürzung "Maddie" benutzten zuerst britische Boulevardmedien. Der stern hat sich entschlossen, Madeleine so zu nennen, wie die Eltern es tun. Vor allem dann, wenn es in Texten um das Mädchen im Speziellen geht. Für viele Menschen ist der "Fall Maddie" allerdings ein fester Name geworden, das zeigen nicht zuletzt Google-Statistiken. Beim stern wird es in Ausnahmesituationen, vor allem dann, wenn es um den Fall, also die gesamte Geschichte geht, in Überschriften oder Textpassagen weiter die Bezeichnung "Fall Maddie" geben.
Weitere ergeben sich aus dem kriminellen Vorleben des inzwischen 43-Jährigen, er ist einschlägig aktenkundig. Der "Spiegel" berichtet von einem Chatverlauf, den die Polizei im Laufe der Ermittlungen sicherstellt. Er wolle "etwas Kleines einfangen und tagelang benutzen", schreibt B. demnach im September 2013 an einen Bekannten. Auf dessen Einwand, dass das gefährlich sei, entgegnet B.: "Och, wenn die Beweise hinterher vernichtet werden."
Kündigt der Verdächtige hier schon die Verschleppung Ingas oder eine andere Straftat an? Die Unterhaltung liefert jedenfalls neben den Bildern auf dem später entdeckten Datenträger einen weiteren Einblick in das Innenleben von Christian B. Er saß bereits von Dezember 2017 bis August 2018 in der JVA Wolfenbüttel eine Haftstrafe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Verbreitung von Kinderpornographie ab. Es war bereits seine zweite Verurteilung wegen solcher Delikte. Aktuell ist B. wegen eines Drogendeliktes in Kiel im Gefängnis.
Die Akten im zwischenzeitlich eingestellten Verfahren um das Verschwinden Ingas werden nach den jüngsten Hinweisen nun wieder hervorgeholt. Ob Christian B. tatsächlich etwas mit dem Fall zu tun hat oder die Indizien nur Zufälle sind, müssen nun die Ermittler klären. Handfeste Belege für diese Theorie gibt es bisher nicht. Derzeit wird der 43-Jährige nicht als Beschuldigter im Fall Inga geführt. Sein Anwalt will sich zurzeit nicht äußern.
Warum zeigt der stern das Bild von Christian B. verpixelt?
Der Pressekodex und die journalistische Sorgfaltsplicht erlauben eine Veröffentlichung von Fotos oder vollem Namen von Tatverdächtigen nur unter bestimmten Umständen. Im Fall von Christian B. liegen diese nach Auffassung der stern-Redaktion nicht vor: Es gibt bisher keinen eindeutigen Beweis oder gar ein Urteil, dass B. der Mörder von Maddie und/oder Inga ist. Der Verdächtige befindet sich zurzeit wegen eines anderen Deliktes in Haft und damit auf dem Weg der Resozialisierung – diesem Ziel widerspräche eine Veröffentlichung des unverpixelten Fotos, wenn sich der Tatverdacht gegen den 43-Jährigen nicht erhärten sollte.
Quellen: "Magdeburger Volksstimme", "Spiegel", "Aktenzeichen XY ... ungelöst", Bundeskriminalamt, Nachrichtenagenturen DPA und AFP