24. September bis 18. November 2011: Ein Hilferuf
In der Jugendpsychiatrie Aschendorf wird ein 18-Jähriger wegen seiner pädophilen Neigungen behandelt. Der junge Mann war aufgenommen worden, nachdem seine Mutter ihn erwischt hatte, wie er im Wohnzimmer Aufnahmen eines unbekleideten siebenjährigen Mädchens machte. Am Ende der Therapie raten ihm die Fachleute, sich weitere professionelle Hilfe zu suchen.
Mittwoch, 23. November 2011: Eine Anzeige bei der Polizei
Häufig kommt das nicht vor: In der Amtsstube des Polizeikommissariats Emden steht ein junger Mann und sagt, er wolle sich selbst anzeigen. Der 18-Jährige erklärt, er habe pädophile Neigungen, sei deswegen bereits in Behandlung, wolle aber aktiv noch etwas unternehmen. Der Berufsschüler macht einen glaubwürdigen Eindruck. Erst recht, als er einräumt, Fotos von einem unbekleideten Kind aufgenommen zu haben und sein Stiefvater den Beamten eine Festplatte aus dem PC des 18-Jährigen übergibt. Der Diensthabende nimmt eine Anzeige auf. Ein Aktenzeichen wird angelegt. Dann gibt die Emder Polizei den Fall zuständigkeitshalber an die Kollegen im Nachbar-Landkreis Aurich ab, wo der Verdächtige damals wohnt. Die zentrale Ermittlungsstelle der Staatsanwaltschaft Hannover beantragt eine Hausdurchsuchung.
Donnerstag, 24. November: Die Joggerin
In den Emder Wallanlagen sind die Wege ideal für Jogger. Auch eine junge Frau ist hier regelmäßig unterwegs, um im Grünen zu laufen. Doch an diesem Novembertag wird ihr Sport jäh unterbrochen, als ein Mann sie überfällt und versucht zu vergewaltigen. Der Zufall hilft ihr zu entkommen. Die Polizei nimmt den Fall auf, sichert DNA-Spuren. Doch der Täter bleibt unbekannt.
Freitag, 30. Dezember 2011: Danach passiert - nichts
Der Beschluss zur Hausdurchsuchung bei dem 18-Jährigen landet Ende Dezember wieder bei der Auricher Polizei. Danach passiert - nichts. Niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass sich in dem kleinen ostfriesischen Städtchen Emden gerade eine Katastrophe anbahnt.
Samstag, 24. März: Kein Tag wie jeder andere
Eine Elfjährige und ihr gleichaltriger Freund haben die Fahrräder rausgeholt, wollen ein bisschen um den Emder Wall herumkurven. Enten füttern. Die ersten Sonnenstrahlen machen unternehmungslustig. Ein schöner Tag, der seine Frühlingsfröhlichkeit abrupt verliert - und zwar irgendwann zwischen 17 und 19 Uhr. Es ist die Zeit, da der Junge zuhause sagt, seine Freundin sei weg, und die Eltern des Mädchens sich auf die Suche machen. Als ein Wachmann den leblosen Körper des Kindes findet, ist dieser Samstag kein Tag mehr wie jeder andere.
Montag, 26. März: Eine Stadt sucht einen Mörder
Den Ermittlern ist schnell klar, dass das Mädchen einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen ergeben, dass die Elfjährige sexuell missbraucht wurde. Nicht nur die Emder sind geschockt. Die bundesweite Aufmerksamkeit liegt auf Videosequenzen, die die Polizei veröffentlicht. Sie zeigen den mutmaßlichen Täter im Parkhaus. Doch zu erkennen ist er nicht. Die Stadt Emden lobt 10.000 Euro für Hinweise aus, die zur Ergreifung des Mannes führen. Mehr als 170 Hinweise gehen bei der Polizei ein. Erste Gerüchte und Hassaufrufe im Internet machen die Runde.
Dienstag, 27. März: Ein Aufruf zur Lynchjustiz
Die Polizei nimmt einen 17 Jahre alten Emder in der Wohnung seines Vaters fest. Als die Beamten den Jungen in Handschellen abführen, klicken die Kameras der Fotografen. In Windeseile verbreitet sich bundesweit die Nachricht, dass ein Verdächtiger gefasst wurde. Er wird noch am selben Abend vernommen - und bestreitet die Tat. Im Internet kursieren derweil Lynchaufrufe. Ein 18-Jähriger ruft bei Facebook dazu auf, die Polizeistation zu stürmen. Am Abend belagern rund 50 Menschen das Polizeigebäude. Es dauert bis zum frühen Mittwochmorgen, ehe die Beamten die Situation in den Griff bekommen.
Mittwoch, 28. März: Ein Haftbefehl und viele Hoffnungen
Das Amtsgericht Emden erlässt Haftbefehl gegen den 17-Jährigen. Der Verdacht, dass er die Elfjährige getötet hat, hat sich erhärtet, nachdem er sich in Widersprüche verwickelte und sein Alibi für die Tatzeit platzte. In der Stadt herrscht vorsichtige Zuversicht, dass die schreckliche Tat aufgeklärt ist und die Eltern ihre Kinder wieder ohne Angst auf die Straßen lassen können.
Donnerstag, 29. März: Ein Irrtum mit Folgen
In einer bundesweit über TV ausgestrahlten Pressekonferenz berichten Polizei und Staatsanwaltschaft über den Stand der Ermittlungen. Sie warnen vor Vorverurteilungen, bekräftigen, dass es sich bei dem vorläufig Festgenommenen um einen Verdächtigen handelt und die Tat noch nicht bewiesen ist. In einigen Medien ist trotzdem schon von dem "Killer" die Rede. Fotos werden veröffentlicht, Details aus seinem Leben genannt.
Freitag, 30. März: Polizeischutz für die Opfer
Dann die unerwartete Wende: Der 17-Jährige wird entlassen. Nach Angaben der Ermittler kann er als Täter ausgeschlossen werden. Wirklich frei ist er dennoch nicht. Der Junge erhält neben psychologischer Betreuung auch Polizeischutz und muss an einen unbekannten Ort gebracht werden. Die Gefahr ist zu groß, dass er allein mit seiner Familie der Konfrontation mit der Öffentlichkeit nicht gewachsen ist.
Auch die Eltern des toten Mädchens sind in Sicherheit gebracht worden. Seit Tagen belagern Medien und Neugierige ihr Zuhause. Trotzdem müssen sie heute den schwersten Gang ihres Lebens machen. Sie müssen ihr Kind beerdigen. "Es ist ein schrecklicher Mord geschehen, wir stehen hilflos und verzweifelt davor", sagt Pastor Manfred Meyer in seiner Predigt.
Samstag, 31. März: Ein Geständnis
Polizei und Staatsanwaltschaft geben bekannt, dass sie einen neuen Tatverdächtigen festgenommen haben. Es ist ein 18-Jähriger, von dem DNA-Spuren am Tatort gefunden wurden. Der Berufsschüler legt ein Geständnis ab, sagt aber nichts zum vermuteten sexuellen Motiv der Tat.
Sonntag, 1. April: Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren
Der 18-Jährige kommt in Untersuchungshaft. Öffentlich wird an diesem Tag wenig bekannt. Doch polizeiintern werden Informationen ausgetauscht und Ermittlungen abgeglichen. Dabei stellt sich schnell heraus, dass es bei diesem Fall um mehr als einen Mord geht.
Dienstag, 3. April: Offensichtliche Ermittlungspannen werden bekannt
Der Polizei bleibt nichts anderes übrig, als einzuräumen, dass der verdächtige 18-Jährige kein Unbekannter ist, dass schon länger Ermittlungen gegen ihn wegen des Besitzes von Kinderpornografie laufen - und dass seine DNA mit der übereinstimmt, die im vergangenen Jahr bei der Joggerin gefunden wurde. Außerdem hat er drei Einbrüche gestanden.
Die Entrüstung in der Öffentlichkeit ist groß. Viele wollen wissen, ob der Mord an der Elfjährigen hätte verhindert werden können, wenn die Behörden im vergangenen Jahr professionell reagiert hätten. Fakt ist: Hätten die Beamten damals bei der Selbstanzeige die DNA des 18-Jährigen abgenommen und gespeichert, wäre nicht nur der Überfall auf die Joggerin rechtzeitig aufgeklärt worden, sondern auch ohne Zeitverzug der Mord an dem kleinen Mädchen.
Der stellvertretende Osnabrücker Polizeichef, Friedo de Vries, versichert, dass die Umstände dieser Panne jetzt mit polizeiinternen Ermittlungen aufgeklärt werden. Über mögliche Konsequenzen innerhalb der Polizei will er allerdings noch nichts sagen.
Mittwoch, 4. April: Abrechnung
Die Auricher Staatsanwaltschaft teilt mit, dass sie nun gegen zwei Beamte der Polizeiinspektion Aurich ermittelt. Es bestehe der Anfangsverdacht der Strafvereitelung im Amt. In Emden und nicht nur dort wird offen darüber diskutiert, ob der Fall mehr ist als nur eine Panne, sondern ein handfester Skandal. Doch noch sind zu wenige Fakten auf dem Tisch. Für das polizeiinterne Untersuchungsverfahren kommt eine der anderen sechs Polizeidirektionen in Niedersachsen oder das Landeskriminalamt infrage. Noch vor Ostern soll klar sein welche. Die Polizei will vermeiden, dass der Eindruck entsteht, hier soll etwas vertuscht werden.
Der innenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von CDU und CSU, Hans-Peter Uhl, fordert, dass der Vorfall "minutiös" aufgeklärt und herausgefunden wird, ob "geschlampt" wurde.
Doch so einfach ist es mit der Schuld wohl nicht. Die Deutsche Kinderhilfe jedenfalls kritisiert, dass beispielsweise der Besitz kinderpornografischen Materials nach bestehender Rechtslage "Kriminalität niederen Ranges" ist. Zu Haftstrafen komme es wegen der geringen Höchststrafe von zwei Jahren praktisch nie.
Vielleicht ist das ein Grund, weshalb die Beamten die Selbstanzeige des Jugendlichen im November nicht prioritär behandelten. Die Kinderhilfe meint, wenn nun aus der Politik harsche Kritik an den ermittelnden Beamten erfolge, dann dürfe dabei die Verantwortung der Politik für die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht außer Acht bleiben.