In Emden ist seit dem Mord an einem elfjährigen Mädchen am 24. März nichts mehr wie vorher: Die rund 50.000 Einwohner der ostfriesischen Stadt erleben seither ein Wechselbad der Gefühle. Erst der Schock über den Mord an der Elfjährigen, dann die vorläufige Festnahme eines Unschuldigen. Internet-Hetze sowie Rufe nach Lynchjustiz sorgen für Empörung. Der Erleichterung über die Festnahme eines anderen Verdächtigen und dessen Geständnis vergangene Woche folgt schließlich ein bitteres Eingeständnis der Polizeiführung in Osnabrück: Gegen den 18 Jahre alten Verdächtigen wurde schon seit vergangenen November ermittelt - aber die Polizei blieb untätig. Dabei hatte sich der junge Mann selbst als Pädophiler angezeigt.
Immer noch entzünden Menschen Kerzen vor dem Tatort am Emder Parkhaus. Holger Madena aus Braunschweig begleitet seine beiden acht und zwölf Jahre alten Kinder, die ihre Anteilnahme zeigen wollen: "Das ist ihnen wichtig, sie haben die Zeitungsberichte gelesen." An der Polizeiarbeit lässt Madena kein gutes Haar: "Das sind doch hier Schönwetterpolizisten. Einen Blitzer an der Straße können sie aufstellen, aber eine Hausdurchsuchung kriegen sie nicht hin."
Nach Bekanntwerden der schweren Panne fragen sich Madena und andere Passanten: "Hätte der Mord verhindert werden können?" Nach Polizeistandards hätten die Beamten bei der Selbstanzeige des Mannes im November 2011 seine Fingerabdrücke und eine Speichelprobe nehmen müssen. Nur einen Tag später entkommt eine Joggerin in den Emder Wallanlagen einer Vergewaltigung - auch hier verdächtigt jetzt die Polizei den 18-Jährigen, nachdem entsprechende Spuren in seiner Wohnung gefunden wurden. Die Chance, schon früher bei ihm Spuren von diesem Tatort zu finden, wird verpasst - ein bereits genehmigter Durchsuchungsbeschluss bleibt irgendwo liegen.
"Muss denn erst ein Mord passieren?"
Laut schrillende Alarmglocken werden nicht gehört: Der junge Mann hat bereits zwei Monate Jugendpsychiatrie hinter sich, als er im vergangenen November mit einem Psychologen zur Selbstanzeige bei der Polizei erscheint. Dort räumt er ein, ein siebenjähriges Mädchen ausgezogen und fotografiert zu haben. Das alles bleibt offenbar folgenlos. "Muss denn erst ein Mord passieren, bevor die Polizei eingreift?", fragt sich eine Pädagogin aus Emden, die ihren Namen nicht nennen will.
In der Stadt verfolgen am Mittwoch Schaulustige neue Ermittlungen der Mordkommission. Am Morgen gleiten zwei Taucher ins trübe Wasser der Kanäle in den Wallanlagen, um nach der Tatwaffe zu suchen. Ob es ein Messer ist, verraten die Ermittler nicht, ebenso wenig wie die Todesursache. "Das ist Täterwissen", sagt Einsatzleiter Martin Lammers. Zu den Ermittlungspannen anderer Kollegen will er nichts sagen.
Am Abend wollten sich viele Emder vor dem Bahnhof versammeln, um einem zunächst Verdächtigten ihre Anteilnahme zu zeigen. Der inzwischen 18 Jahre alte Mann war nach einem Anfangsverdacht wieder freigelassen worden. Zwischenzeitlich hatte es Hetzparolen und Todesdrohungen im Internet gegen ihn gegeben. Für den 13. April hat die Stadt Emden zu einer Demonstration gegen Intoleranz, Vorverurteilungen und Selbstjustiz aufgerufen. Auf Internetseiten der rechten Szene tauchten inzwischen schon wieder der volle Name und ein Foto des geständigen Tatverdächtigen auf.