Manchmal sind Hände Zeugnis für das Schicksal eines Menschen, für seine Beschwernisse. Bei Fu Minzu und Wang Lanqin ist das so. Ihre Hände sind gezeichnet und verformt. Das dunkle Plastik hat ebenso Spuren hinterlassen wie die ewig gleiche Bewegung. Der Chinese und seine Frau haben jahrelang einen Blasebalg gedrückt. Immer und immer wieder. 18 Mal die Minute, gut 26.000 Mal am Tag, annähernd 800.000 Mal im Monat. "Wir haben kein Geld, keine Macht, nur die Zeit und Geduld", sagt Fu Minzu rückschauend. Wenn er nicht mehr konnte und sich ausruhen musste, übernahm seine Gemahlin Wang Lanquin. Eine Pause war nicht möglich. Nie. Nicht einmal eine einzige Minute. Wäre einer der beiden eingeschlafen, hätte sich ihr Leben noch mehr verdüstert. Dann nämlich wäre Ihr Sohn gestorben. Annähernd sieben Jahre lang versorgte das Paar seinen Spross mit Luft zum Atmen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Von dem Blasebalg führte ein Schlauch in seine Luftröhre. Jeder Schub brachte den Lungen frischen Sauerstoff.
Fu Xuepeng stand in der Blüte seines Lebens, als er sich an jenem für ihn so verhängnisvollen Tag auf sein Motorrad schwang, um zum Supermarkt zu fahren. Er kam dort nie an. Ein Autofahrer erfasste sein Krad. Seit dem Crash im März 2006 ist Fu Xuepeng vom Hals abwärts gelähmt. Sprechen kann der inzwischen 30-Jährige bis heute nur wenige Sätze, dann muss er pausieren. "Schon die erste Krankenhausrechnung betrug 10.000 Yuan (1200 Euro)", sagte Fu Minzu zu stern.de. Der Verursacher des Unfalls musste 300.000 Yuan (35.000 Euro) Entschädigung zahlen. Das Geld reichte noch nicht einmal für die Behandlungskosten der ersten vier Monate, die insgesamt mit mehr als einer Million Yuan (rund 130.000 Euro) zu Buche schlug. Gut zwei Drittel davon musste die Landarbeiterfamilie mittels Krediten tragen. "Die medizinischen Kosten waren astronomisch für uns Bauern", berichtete der Onkel des Patienten, Wang Liubing, dem "Daily Telegraph". "Die Familie bekam eine Entschädigung, aber konnte kaum die Schulden zurückzahlen."
Betreuung rund um die Uhr
Nachdem die Eltern erfuhren, dass ihr Sohn niemals wieder wird laufen können, beschlossen sie, Fu Xuepeng zu sich nach Hause zu nehmen und ihn dort zu versorgen, so gut es eben ging. Ein weiterer Aufenthalt im Hospital hätte Monat für Monat Unsummen verschlungen, die das Ehepaar niemals hätte aufbringen können. Fu Minzu und Wang Lanqin wussten, was auf sie zukommt. Sie gaben ihre Arbeit auf, um sich ganz dem Leben ihres Jungen zu widmen. Ungefähr 850 Yuan (100 Euro) Sozialhilfe steht der Familie im Monat zu Verfügung.
Über zwei Jahre bedienten der 67-Jährige und seine Frau den Blasebalg rund um die Uhr. Sie wechselten sich ab, um den 24-Stunden-Betrieb aufrecht zu erhalten. An die Anschaffung eines Luft spendenden Geräts, wie es in Krankenhäusern benutzt wird, war nicht zu denken. Zu teuer. Anfang 2009 sahen die Eheleute im Fernsehen eine Sendung über die Herstellung einer Beatmungsmaschine. Sie kauften nach eigener Aussage für etwa 200 Yuan (weniger als 25 Euro) Material und schufen mit Hilfe eines verwandten Bastlers aus ihrem Dorf eine Apparatur, die von nun an die Luftversorgung ihres Sohnes übernahm.
18 Mal drücken pro Minute
Der Raum, in dem Fu Xuepeng in seinem Krankenbett liegt, ist alles andere als schön. Er zeugt von der Armut der Familie, die in der ostchinesischen Provinz Zhejiang lebt, mehr als 1000 Kilometer südlich von Peking entfernt. Das Gerät ist laut, das Öl zur Schmierung des Motors riecht übel und verpestet die Luft. Aber es funktioniert und nahm den Eltern die Last einer 24-Stunden-Betreuung. Doch auch das hatte bald ein Ende - nämlich als die erste Stromrechnung ins Haus flatterte. Sie betrug um die 200 Yuan (ungefähr 25 Euro) für einen Monat. Auch das war für die Familie auf Dauer nicht zu bezahlen. Um zu sparen, schalteten Vater und Mutter des Patienten die Maschine nur noch nachts ein. Tagsüber pumpte das Paar weiter mit der Hand. "18 Mal die Minute", sagt Vater Fu, seine Frau spricht von 18 bis 20 Mal. Sechs Beatmungsbeutel - wie die Blasebalge im Fachchinesisch heißen - sind in den sieben Jahren verschlissen worden.
Improvisierter Dialyseapparat für die Niere
Als vor wenigen Tagen das Schicksal der Familie bekannt wurde, entbrannte in China eine hitzige Debatte über das Gesundheitssystem des Landes. Einerseits zeigte sich Unmut darüber, dass der Querschnittgelähmte und seine mittellosen Eltern über all die Jahre allein gelassen wurden. Andererseits wurde auf ähnlich traurige Schicksale verwiesen, die unbeachtet blieben, weil über sie nicht berichtet werde. Tatsächlich wurde der Fall eines Mannes bekannt, der 13 Jahre lang mittels eines improvisierten Apparates überlebte, das die Blutwäsche seiner Niere übernahm. "Sofern Sie einen Hochschulabschluss haben, das Prinzip der Dialyse verstehen, die Betriebsanweisungen befolgen und den Prozess streng beobachten, sollte nichts schief gehen", zitierte eine chinesische Zeitung einen 43-Jährigen.
Zu Zeiten, als das Land noch den Kommunismus in Reinform anstrebte, waren alle medizinischen Leistungen kostenlos. Der Staat und Unternehmen in "Volkseigentum" kamen dafür auf. Das war auf Dauer nicht bezahlbar. Von 1990 an erhöhten sich die Gesundheitsausgaben um mehr als das Zwanzigfache. Die Chinesen wurden zu einer Beteiligung an den Kosten gezwungen. Zugleich fielen immer mehr Menschen aus dem System heraus und waren allein auf sich gestellt. Die drastischen Reformen führten dazu, dass nicht einmal überall eine ausreichende Grundversorgung existiert. Ärzte in staatlichen Krankenhäusern werden schlecht bezahlt - manche so mies, dass sie Medikamente verkaufen oder sich von der Pharmaindustrie bestechen lassen. Erst 2009 wurde damit begonnen, die Landbevölkerung konsequent in Krankenversicherungen einzubeziehen.
"Jetzt ist alles gut. Ich bin sehr glücklich"
Für Fu Xuepeng und seine Eltern brachte die Berichterstattung über ihr Schicksal viel Gutes. Mehr als 200.000 Yuan (etwa 24.000 Euro) erhielt die Familie an Spenden aus dem ganzen Land. Und der 30-Jährige bekam eine "neue Lunge". Ein Hersteller medizinischen Zubehörs sponserte eine hochmoderne, computergesteuerte Beatmungsmaschine. Sie wird von Batterien getrieben, die für einen lautlosen und geruchsfreien Betrieb zwischen sechs und acht Stunden sorgen. Tests in einem Krankenhaus liefen erfolgreich, so dass das Gerät inzwischen bei Fu Minzu und Wang Lanqin daheim steht. "Zum ersten Mal nach Jahren konnte ich gut schlafen", sagt die Mutter. Und ihr Mann fügt hinzu: "Jetzt ist alles gut. Ich bin sehr glücklich." Seinen Angaben zufolge versprach die Regierung, in das Haus der Familie eine leistungsfähige Heizung einzubauen. Fu Xuepeng lag in der kalten Jahreszeit voll angezogen und mit Mütze im Bett. Er hat einen Wunsch, der zugleich ein Traum ist: sich bei seinen Eltern zu revanchieren. Die Chancen stehen sehr schlecht. Die Erfolgsaussichten einer Operation gibt er laut chinesischen Zeitungen unter Berufung auf seine Ärzte mit einem Prozent an.
"Wir dachten niemals daran aufzugeben, nicht eine Sekunde", erklärte Fu Minzu in der "China Daily". "Niemals würden Eltern ihr Kind aufgeben, so lange es eine geringe Chance gibt, dass es weiterlebt." Die selbstgebastelte Maschine will er nicht wegschmeißen. Nicht aus Nostalgie, sondern aus Sicherheitsgründen. "Falls dass das neue Gerät ausfällt", sagte er stern.de, "können wir das alte benutzen."