Mirco-Prozess in Krefeld Ein Mord in sieben Versionen

  • von Uta Eisenhardt
Er hat mittlerweile sieben Versionen über den Tathergang abgelegt: Der Familienvater Olaf H. hat den Mord am kleinen Mirco aus Grefrath gestanden - und gibt sonst viele Rätsel auf.

Ein kopfloser Mann betritt den Saal 167. Zumindest wirkt Olaf H. so, als er mit blauer Baseballmütze, Brille und einem Dokumentenstapel vor der Nase in den Sitzungssaal des Landgerichts Krefeld geführt wird. Kaum haben die Kameraleute ihre Arbeit beendet, entfernt der 45-jährige seine Verkleidung – einschließlich seiner Brille. Zum Vorschein kommt ein Mittelblonder mit Tränensäcken, Doppelkinn und Geheimratsecken. Das verbliebene kurze Haar hat er gegelt, seinen etwas dicklichen Körper in einen dunklen Anzug mit Krawatte gesteckt. Am 3. September soll dieser Mann den zehnjährigen Mirco aus Grefrath ermordet haben.

Zumeist blickt der dreifache Familienvater und ehemalige Teamleiter der Telekom in seine Unterlagen oder zu Boden. Wenn er dann aber doch einmal hoch schaut, deutet sich in seinem Gesicht ein Grinsen an. Es ist kein überlegenes, es ist eher eines, dass man von ertappten Kindern kennt, welche die Peinlichkeit ihrer Tat wegzulächeln versuchen. Über Tage und Monate druckste Olaf H. bei den Vernehmungen und Befragungen herum, gab fünf, sechs, sieben verschiedene Versionen und Unterversionen für das Geschehene zu Protokoll. Das Gericht muss sie alle akribisch auf ihre Plausibilität prüfen, denn der Angeklagte gibt den Mord zwar über seinen Verteidiger Gerd Meister grundsätzlich zu, den Fragen des Gerichts will er sich aber nicht stellen.

Über Stunden verliest der Vorsitzende Richter Herbert Luczak eine Vielzahl von Vernehmungsprotokollen. Danach hat der am 26. Januar Festgenommene zunächst alle Vorwürfe bestritten. Dann will er den bereits ermordeten Jungen auf einem Parkplatz gefunden und aus Angst, in die Angelegenheit verwickelt zu werden, auf einen Acker gebracht haben. Er führte die Polizei auch zu der Leiche des Kindes, die nur noch Knochen und Schädel bestand. Das ist wenig Material für eine rechtsmedizinische Begutachtung und lässt dem Beschuldigten großen Spielraum für Wahr- und Halbwahrheiten.

Version drei, vier und fünf

In Version drei hat er in der Tatnacht an jenem Acker gehalten und dort gepinkelt, als er ein Rufen und Schreien gehört habe. Er sei an die Straße zum Radweg gelaufen, da habe sich der Junge auf seinem Fahrrad vor ihm erschreckt. "Ich bin auf ihn zu, um ihn zu beruhigen", schilderte Olaf H. seinen Vernehmern. Er habe dem Jungen den Mund zugehalten, bis der plötzlich in sich zusammen gesackt sei.

Es folgte Unterversion vier, nach der sich Olaf H. über das Kind geärgert haben will, weil es mit seinem Rad so schnell in den Kreisverkehr eingebogen sei. Am nächsten Tag wurde der Beschuldigte erneut vernommen - und präsentierte Version fünf. Diesmal sei es ein Telefonat mit seinem Chef gewesen, der ihn am Tattag "zusammen gefaltet" habe. Er sei dann ziellos in der Gegend herum gefahren. So würde er oft seinen Stress abbauen: "Ich habe keinen Ausgleich, ich mache keinen Sport."

In dieser Stimmung habe er Mirco getroffen, dem er befahl, sich auf den Beifahrersitz zu setzen. Der schockstarre Junge tat wie geheißen. Er habe sich vor Angst in die Hosen gemacht und sollte sich darum ausziehen. "Ich habe gemeint, nur die Hose, aber er zog sich komplett aus", steht im Vernehmungsprotokoll. "Ich war überrascht vom Gefühl der Kontrolle. Es fühlte sich gut an, aber es war nicht richtig." Er habe Mirco aufgefordert, sich nach hinten zu setzen, wo er die Rückbank seines VW Passats umgelegt hatte. Der Junge hätte gehorcht, sich auf den Bauch gelegt und klaglos den Rücken streicheln lassen. Olaf H. habe sich nun seine eigene Hose und Unterhose heruntergezogen und sich auf den Po seines Opfers gelegt. Aber: "Ich bekam keine Erektion, weil sich das irgendwie falsch anfühlte." Als nächstes habe er gedacht: "Den kannst du nicht laufen lassen." Darum habe er den Jungen erwürgt.

Version sechs und sieben

Es gibt auch noch eine Version sechs: Die äußerte der Beschuldigte vor dem Ermittlungsrichter. Er sei als 13-jähriger selbst missbraucht worden, erklärte Olaf H. Er habe noch nie darüber gesprochen. Und er habe sich die Worte des Richters und seines Anwalts durch den Kopf gehen lassen: "Ich solle allein für meine Familie und mit Würde dazu stehen." Er habe seinen Penis an Mircos Hintern gerieben. "Für mich war das die höchste Erniedrigung, das war das Maximale, was man als Macht ausüben konnte." Gleichzeitig habe er gedacht: "Hier läuft was komplett aus dem Ruder, das kann doch nicht wahr sein, das bin doch nicht ich?!" Er sei doch nicht homosexuell: "Wenn ich pädophil wäre, würde ich doch meine Söhne auch missbrauchen!?"

Er habe sich weggedreht, sich bei dem Jungen entschuldigt, aber er sei in seinen Augen schon zu weit gegangen. "Jetzt musste ich den letzten Schritt auch noch tun." Um dem sterbenden Kind nicht in die Augen schauen zu müssen, habe er ihm "wie in Trance" eine Schnur unter seinen Kopf geschoben und diese mit beiden Händen zugezogen. "Ich habe meinen Kopf auf seinen Rücken gelegt. Erst dann wusste ich, was ich getan habe." Er sei bestürzt gewesen und habe geweint. Dann habe er das nackte Kind auf den Acker getragen: "Das hat mich an meinen Sohn erinnert. Ich hatte das Gefühl, ich hätte meinen eigenen Sohn im Arm.“ Er habe dann das "Vaterunser" gebetet. "Das ist das einzige Gebet, das ich komplett kann." Er habe mit dem Toten gesprochen und sich von ihm verabschiedet.

Auf der Rückfahrt habe er geweint. Am nächsten Morgen habe ihn seine Tochter geweckt: "Papa aufstehen! Brötchen holen!". "Ab diesem Moment habe ich nur noch Maske getragen", sagte Olaf H. zum psychiatrischen Gutachter. Dem hatte er wiederum – so Version sieben - "beim Leben seiner Tochter" versichert, es habe keine sexuellen Handlungen zwischen ihm und Mirco gegeben.

Was der Richter Olaf H. rät

Welche Variante ist die wahre? Möglicherweise weiß das noch nicht einmal der Angeklagte, der noch immer mit dem Verdrängen- und Nicht-Wahrhaben-Wollen kämpfe, der seine Tat für unentschuldbar halte und selbstmordgefährdet sei, wie sein Anwalt erklärt. Die Staatsanwältin wählte für die Anklage Version sechs, die Olaf H. über seinen Verteidiger auch im wesentlichen bestätigt. Nur will er dem Leichnam nicht mit einem Messer in den Hals gestochen haben – wie er es offenbar zunächst berichtete.

Der Angeklagte wolle sich einer Therapie stellen, lässt er von seinem Verteidiger vortragen. Wenn das so gewollt ist, mahnt der Vorsitzende Richter mehrfach, dann solle sich Olaf H. spätestens im Prozess zu der Tat bekennen, sonst falle ihm der Einstieg immer schwerer.

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