Seit Jahren entwickelte sich hinter den Türen eines der zahllosen Moskauer Hochhäuser-Appartements ein höllisches Gebräu aus Hass, Gewalt und Grausamkeit zusammen. Am 27. Juli lief das brodelnde Fass über. Drei junge Frauen griffen zum Messer und stürzten sich auf ihren eigenen Vater, der in seinem Fernsehsessel schlief. Mindestens 36 Mal stachen sie zu, schlugen mit einem Hammer auf seinen Kopf ein - bis der übel zugerichtete Körper von Michail Chatschaturjan leblos liegen blieb.
Was Angelina, 18, Christina, 19, und Maria, 17, getan haben, bestreiten sie nicht. Nachdem sie ihren Vater getötet hatten, riefen sie selbst die Polizei, gestanden ihre Tat. Doch wie konnten die drei Schwestern ein solches Verbrechen begehen? Diese Frage versuchen nicht nur die Moskauer Ermittlungsbehörden zu klären, sondern die gesamte russische Öffentlichkeit, die sich in zwei Lager gespalten hat. Während für die einen ein Mord durch nichts zu entschuldigen ist, fordert die breite Mehrheit einen Freispruch für die drei jungen Frauen. Nur durch diese verzweifelte Tat hätten sie sich von einem wahren Tyrannen befreien können, so die vorherrschende Meinung. Denn nach und nach kommen Details an die Öffentlichkeit, die den Alptraum offenbaren, in dem die drei Schwestern offenbar Jahre lang leben mussten.
Freundinnen der jungen Frauen, Bekannte der Familie, Nachbarn, Lehrer - sie alle charakterisieren Michail Chatschaturjan einstimmig als schrecklichen Despoten. Seine Töchter hätten in ständiger Angst gelebt. Das wichtigste Erziehungsinstrument des Armeniers sei eine Pistole gewesen, die er bei dem kleinsten vermeintlichen Fehler gegen die Schläfen seiner Kinder gehalten und mit Ermordung gedroht hätte. Ständig habe Chatschaturjan seine Töchter verprügelt. "Er konnte sie in den Bauch treten, würgen, sie anbrüllen, dann Gott um Vergebung bitten, und dann weiter brüllen", erzählte etwa eine Freundin der Schwestern dem Magazin "Meduza". "Jedes Mal hat er sich etwas neues ausgedacht, um sie zu betrafen. Da hatte er eine blühende Fantasie. Sein neuestes Ding war, Pfefferspray in ihre Augen zu sprühen."
Ständige Überwachung und Prügel
Die Nachbarn der Familie berichten, dass die Töchter ständig mit blauen Flecken übersät gewesen wären - wenn man sie denn vor die Augen bekommen hätte. Denn sie hätten die Wohnung kaum verlassen dürfen. Um seine Töchter ständig kontrollieren zu können, habe Chatschaturjan vor der Wohnung und im Treppenhaus Kameras angebracht.
Tatsächlich sind dort Kameras zu finden. Russische Medien veröffentlichten sogar eine Aufnahme einer dieser Kameras, die eine der Schwestern unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters zeigen. Verzweifelt läuft sie darauf durch die Flure und schlägt die Hände vors Gesicht.
Auch zur Schule durften die Töchter nur selten gehen. Vor ein paar Monaten sei deswegen jemand aus der Schule bei Chatschaturjan gewesen. Doch der 57-Jährige habe die Lehrer unter Drohungen fortgejagt, teilte die Schulleitung mit.
Das ganze Viertel hatte Angst
Nach Berichten der Nachbarn habe Chatschaturjan das ganze Viertel in Angst gehalten. Er habe immer eine Waffe bei sich getragen, habe sogar einmal eine Frau angeschossen. Doch die Polizei hätte abgelehnt, eine Strafanzeige gegen ihn aufzunehmen.
Eine andere Nachbarin berichtete, Chatschaturjan habe ihr eine Waffe an den Kopf gehalten, nachdem sie ihn gebeten hatte, sein Auto nicht mehr auf dem Rasen zu parken. Auch sie habe sich an die Polizei gewandt - ohne Folgen. "Die Polizei war da, hat einen Bericht erstellt. Doch nach ein paar Tagen ist Chatschaturjan zu mir gekommen, und hat mir Geld angeboten, wenn ich das Geschehene vergesse", erzählte sie im russischen Staatsfernsehen. "Er hat auch in dem Direktor der Schule gedroht, auch der Klassenlehrerin, der Friseurin und auch den Verkäufern im Bekleidungsgeschäft", erzählte sie russischen Medien.
Warum die Behörden auf all die Beschwerden nicht reagierten, steht für die Nachbarn der Familie fest: Der Mann habe die Beamten bestochen. Dass er mit Drogen gedealt hat, hätten alle gewusst, behaupten alle Zeugen aus der Nachbarschaft einstimmig. Daraus habe er nicht mal einen Hehl gemacht. Die Drogen habe er ganz offen aus seinem Auto heraus verkauft.
Nach seinem Tod hat die Polizei Medienberichten zufolge tatsächlich mehrere Kilogramm Kokain in der Wohnung des 57-Jährigen gefunden. Ebenso wie eine ganze Sammlung an Waffen. Auch sein Lebensstil scheint die Berichte der Nachbarn zu bestätigen. Einem regulären Job ging Chatschaturjan nämlich nicht nach, lebte jedoch in Wohlstand. In sozialen Netzwerken postete er tausende Bilder von seinen Reisen, ließ sich gern mit Prominenten ablichten.
Mutter vor die Tür gesetzt
"Natürlich haben die Behörden ihn gedeckt, jetzt haben aber viele ihren Zubringer verloren", sagte eine weitere Nachbarin. Wegen seiner Verstrickung in die kriminelle Szene und seine Verbindungen zu der Polizei hätten auch seine Töchter nicht gewagt, sich an die Behörden zu wenden. "Ich fragte sie einmal, warum sie nicht zur Polizei gehen? Und sie antworteten: 'Spinnst du? Er hat solche Verbindungen, dass wir dann sofort begraben werden", berichtete eine Freundin der drei Frauen.
Aus demselben Grund hätte auch die Mutter von Angelina, Christina und Maria nichts zu unternehmen gewagt. Vor drei Jahren hat ihr Mann sie und den gemeinsamen Sohn, den älteren Bruder der drei, vor die Tür gesetzt. Seitdem habe er ihr jeglichen Kontakt zu den Töchtern untersagt, berichtete die gebürtige Moldauerin im russischen Staatsfernsehen. Er habe gedroht, sie und vor allem alle ihre Kinder umzubringen, sollte sie sich seinen Anordnungen widersetzten.
Sie habe gehofft, dass ihr Mann den gemeinsamen Töchtern nichts antun werde, beteuerte die Mutter unter Tränen, obwohl sie selbst jahrelang Prügel ertragen musste.
Doch offenbar machte Chatschaturjan nicht vor seinen Töchtern halt. Im Gegensatz: Seit die Mutter das Haus verlassen habe, hätten die Töchter ihren Platz einnehmen müssen, vermuten Psychologen, die mit den jungen Frauen gesprochen haben. Sie mussten ihren Vater von vorne bis hinten bedienen. "Er hatte ein Glöckchen, und sobald er klingelte, musste eine von uns ihn bedienen", erzählte Angelina. "Er hat nicht mal ein Glas Wasser selbst geholt." Auch sexuelle Annäherungsversuche soll es gegeben haben, erzählte die 18-Jährige. Freundinnen sagten aus, dass die drei mehrmals angedeutet hätten, dass ihr Vater sie auch sexuell missbraucht. "Als ihre Mutter gegangen war, fing er zuerst an, Angelina anzufassen, sie war sein 'Engel". Dann machte er es auch auch mit Christina", erzählte eine Freundin dem Magazin "Meduza". Irgendwann habe er die beiden Mädchen jeden Tag angefasst.
Notwehr oder Mord?
Ein Gericht wird nun klären müssen, ob die drei Töchter aus Notwehr im Affekt gehandelt oder die Tat geplant haben. Angeklagt werden die drei wegen geplantem Mord in Gruppe, einer im russischen Strafrecht besonders schwerwiegenden Tat. Während die Nachbarn von Angelina, Christina und Maria eine Petition für ihre Freilassung gestartet haben, diskutiert nun Russland darüber, wie es soweit kommen konnte. Warum haben alle weggesehen? Warum schritten die Schule oder die Sozialämter nicht ein? Warum blieb die Polizei tatenlos? Fragen, die sich die russische Gesellschaft leider immer wieder stellen muss, wenn grausame Verbrechen ans Licht kommen.
