Es ist Freitagnachmittag, der 2. Februar, mitten im Feierabendverkehr. Die vollbesetzte S-Bahn der Linie 14 ist auf dem Weg von Mainz nach Frankfurt. In der Gegenrichtung ist eine mit circa 500 Fahrgästen besetzte S-Bahn in Richtung Wiesbaden unterwegs. Diese muss an jenem Tag das Überholgleis befahren, da ein Zug außerplanmäßig im Bahnhof Rüsselsheim auf dem Hauptgleis steht.
Als der 24-jährige Lokführer der Linie 14 aus dem Bahnhof Rüsselsheim herausfährt, beschleunigt er und übersieht dabei ein rotes Haltesignal. Zwar wird durch die Vorbeifahrt am Signal sofort eine Notbremsung ausgelöst, dennoch kann sie nicht verhindern, dass die Bahn, die zu diesem Zeitpunkt bereits mit einer Geschwindigkeit von 86 Stundenkilometern unterwegs ist, über die Weiche rutscht und um 16.42 Uhr frontal mit der entgegenkommenden S-Bahn zusammenprallt.
Die ersten Retter an der Unfallstelle sind US-Soldaten
Eines der tonnenschweren Segmente wird durch die Wucht des Aufpralls fast senkrecht nach oben geschoben, bevor es auf einen angrenzenden Parkplatz stürzt und mehrere unbesetzte Autos zerdrückt.

Die ersten Retter am Unfallort sind amerikanische Soldaten aus der direkt an der Bahnstrecke gelegenen Azbill-Kaserne. Sie hören die die Schreie der Verletzten, treffen auf geschockte Fahrgäste, die benommen über die Schienen taumeln und sehen Menschen herumliegen, die aus den Zügen geschleudert wurden. Noch vor dem Eintreffen der ersten Rettungskräfte beginnen sie damit, erste Verletzte aus den völlig zusammengedrückten Waggons zu befreien.
Rund 800 Rettungskräfte sind im Einsatz
Um 20 Uhr eröffnet die "Tagesschau" mit der Meldung über das S-Bahn-Unglück in Rüsselsheim ihre Sendung. Zunächst ist von mindestens 13 Toten und 70 Verletzten die Rede. Doch die Zahl der Verletzten soll sich im Laufe des Abends und der Nacht noch verdoppeln.

Helfer errichten vor Ort einen Notverbandsplatz. Rund 800 Feuerwehrleute, Polizeibeamte, Rot-Kreuz-Helfer, Einsatzkräfte des THW und US-Soldaten bahnen sich durch verbogenes Metall, zersplittertes Glas und unzählige Trümmerteile ihren Weg zu den Opfern. Nur mit Mühe können sie die ineinander verkeilten Waggonteile auseinanderschneiden, um die eingeklemmten Verletzten und Toten zu bergen, denen dafür teilweise noch vor Ort die Gliedmaßen amputiert werden müssen.
17 Tote und 145 Verletzte beim S-Bahn-Unglück von Rüsselsheim
Die Helfer müssen schlimme Bilder ertragen, die sie ihr Leben lang begleiten werden. Es dauert Stunden, bis die Durchsage gemacht werden kann, dass sich keine Überlebenden mehr in den Waggons befinden, die letzten Leichen werden erst spät in der Nacht geborgen.
Rund 400 Menschen nehmen rund eine Woche später bei einer Trauerfeier von den Opfern Abschied. Kurz zuvor war in einem Krankenhaus eine 50-jährige Mainzerin verstorben, die bei der Katastrophe schwer verletzt worden war. Am Ende fordert das schwere Zugunglück 17 Todesopfer und 145 Verletzte.
Dem 24-jährigen Unfallverursacher wird ein Jahr später wegen fahrlässiger Tötung, Körperverletzung und gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr vor dem Landgericht Darmstadt der Prozess gemacht. Die Stellung der Schalter im Stellwerk Rüsselsheim belegt die Tatsache, dass er ein auf Rot stehendes Haltesignal überfahren hat. Der Richter sieht den Tatbestand der fahrlässigen Tötung als erwiesen an. Er habe das Haltesignal "nicht als geschlossen erkannt, weil er zu flüchtig hingesehen hat", heißt es. Allerdings räumt der Richter auch ein, dass der Lokführer einer erheblichen Hektik ausgesetzt gewesen war und ganz alleine die Verantwortung für den gesamten Zug hatte. Dennoch habe er wegen der ihm anvertrauten Fahrgäste eine "gesteigerte Aufmerksamkeitspflicht" gehabt.

Ein "echtes Verschulden anderer" habe das Gericht nicht feststellen können, erklärt der Richter. Alle Stellen hätten ihre Vorschriften erfüllt. Trotzdem wäre es sinnvoll gewesen, den Zugführer über die außerplanmäßig kreuzende andere S-Bahn zu informieren, auch wenn dies nicht Vorschrift sei. Ebenso hätte ein zweiter Bremsmagnet für die Auslösung der Zwangsbremsung das Unglück in dieser Tragweite wahrscheinlich verhindert.
Insgesamt aber habe sonst "niemand seine Verantwortung verletzt". Das Gericht verurteilt den Triebwagenführer zu einer Geldstrafe von 2500 Euro und einer Bewährungsstrafe von zehn Monaten.
Die Bahn legt nach dem Unglück ein Programm auf, um die Sicherheit zu verbessern. In der Nähe des Rüsselsheimer Bahnhofs erinnert ein Gedenkstein an das Unglück.
Quellen: "Tagesschau", SAT 1, "Frankfurter Rundschau", "Frankfurter Neue Presse", DPA