stern-Kolumne Winnemuth Heimkehr nach Mielenhausen

Ein Wiedersehen, ein Abschied: zu Besuch mit dem alten Vater im Dorf seiner Kindheit. Wie gut, hin und wieder die eigene Herkunft zu umrunden.

Als ich klein war, hieß ich in Mielenhausen „Erwin seine“. Erwin, mein Vater, war schon vor Jahren fortgezogen, erst in den Süden zum Arbeiten, dann in den Norden zu meiner Mutter, und wann immer er mit Frau und Kind ins Heimatdorf kam, zur Kirmes oder zu Familienfeiern, wurde ich von den Dorfbewohnern beäugt, „wer is dat denn?“ – „Dat is Erwin seine.“ – „Ach so.“

Ich erinnere mich an Ziegen und Katzen und dass ich immer versuchte, die gespreizten Zeige- und Mittelfinger den Schweinen vorn in die Nase zu stecken. Ich erinnere mich an den Geruch des Misthaufens hinterm Haus und des Sägewerks gegenüber, an die Art, wie meine Oma Lina das Brot vor dem Bauch schnitt, wie ich in ihren dicken Federbetten schier ertrank und im Gemüsegarten Erbsen vom Busch aß.

Ich wollte in die Welt

Und dann wurde ich älter und kam nicht mehr so oft. Was sollte ich da? Ich wollte in die Welt, und das wollten auch meine Cousinen und Cousins, Herbert seine und Karl seine und Hildegard ihre. Das Dorf war immer noch da, aber plötzlich furchtbar weit weg, ferner und fremder als Bangkok oder New York oder Lima, wo mein Cousin Bernd zuletzt drei Jahre gelebt hat.

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Meike Winnemuth

Die Bestsellerautorin ("Das große Los") schreibt wöchentlich im stern. Und freut sich auf Sie. Was bewegt Sie gerade? Tauschen Sie sich mit unserer Kolumnistin aus: 
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Letztes Wochenende waren wir mal wieder da. Es war Grenzbierfest, wie alle zehn Jahre. Zwei Tage lang werden die Grenzen des Dorfes abgegangen, es ist viel Schnaps im Spiel, Grenzstein-Patenschaften werden versteigert, und der Musikexpress Hemeln spielt zum Frühschoppen auf Meyers Wiese. Es ist eine große Sache, auch wenn das Dorf längst eingemeindet worden ist und der Weg einmal herum gerade mal zehn Kilometer lang ist.

Wir fuhren hin, weil mein Vater es so wollte. Er ist nicht mehr so gut auf den Beinen (was mit 89 sein verdammtes Recht ist), aber einmal wollte er noch dabei sein beim Grenzgang. Ein letztes Mal, aller Wahrscheinlichkeit nach, auch wenn er ein zähes Biest ist – aber beim nächsten Mal wäre er 99. Er würde hier an seine eigenen Grenzen gehen, befürchtete meine Mutter; gerade erst haben sie ihm den Gips abgenommen, den er nach einem Sturz sechs Wochen am Arm trug. „Wir gehen nur ein Stück mit“, beruhigte ich sie, „höchstens eine Etappe, auf keinen Fall die ganze Strecke. Und wenn es nur ein paar Meter sind.“

Mir gehört jetzt Grenzstein Nummer 22a

Treffpunkt Klusbrücke: Imbisswagen, Bierausschank, Blaskapelle. Viele sind nicht mehr da, die mein Vater noch  kennt, mit den wenigen liegt er sich in den Armen. Ich muss mal schnell mit dem Hund weg: soll niemand sehen, wie Erwin seine heult.

Der Zug setzt sich in Bewegung, den Wald hoch, durch die Feldmark, meine Eltern langsam und tapfer hinterher. Wie gut das ist, wie klug, alle zehn Jahre mal die Heimat zu umrunden, denke ich, die innere und die äußere. Wie wichtig, hin und wieder seine eigenen Grenzen abzugehen. Haben sie sich verschoben? Wo sind sie durchlässig geworden, wo zu Bollwerken? Wo komme ich her, wo will ich hin? Und wo bin ich überhaupt gerade?

Ein schönes Wochenende war das, eine  Standortbestimmung. Mir gehört jetzt Grenzstein Nummer 22a, mitten im Bach Schede gelegen, meinem heimgekehrten Cousin Bernd wurde die Grenzbierfestfahne zugelost; wir beide sind jetzt an diesen fremden, nahen Ort gebunden. Mein Vater wiederum hat seinen alten Stein Nummer 10 freigegeben. Es war ein Wiedersehen, ein Abschied, ein Ende, ein Anfang. Und ich musste die ganze Zeit an die Zeile des Dichters Robert Frost denken: „Alles, was ich über das Leben gelernt habe, kann ich in drei Wörtern zusammenfassen: Es geht weiter.“

Der nächste Grenzgang ist 2025.

Die Kolumne von Maike Winnemuth steht jede Woche im stern. Dieser Text ist ursprünglich in Heft Nr. 41 vom 01.9.2015 erschienen.

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