Einer der vielen Momente, in denen ich mich immer kurz und heftig fremd- und selbstschäme, sind jene quälenden fünf Minuten bei Filmpreisverleihungen, wenn der Toten des vergangenen Jahres in einer Schwarz-Weiß-Fotoparade gedacht wird. Schlimm ist dabei nicht nur der Nekrolog im Sekundentakt, sondern der an- und abschwellende Beifall im Publikum, der jeden Tod per Applausometer auf einer Skala von tieftraurig über bedauerlich bis scheißegal bewertet. Um den da ist's schade, um den da … na ja. Wenn man je das genaue Gegenteil von Pietät besichtigen wollte, wäre hier der perfekte Anlass.
Ein ähnliches Applausometer hat sich seit einiger Zeit online in den sozialen Medien etabliert, ein Phänomen, das die Kollegen des "Süddeutsche Zeitung Magazins" so hübsch wie richtig "RIPstorm" getauft haben. Kaum sickert die Todesmeldung eines Prominenten durch die Kanäle, schon postet man ein hastiges "R.I.P." für "Rest in peace" (sooo viel lässiger und irgendwie lebendiger als "Ruhe in Frieden") zusammen mit einem schnell gegoogelten Zitat oder dem Link zu einem Video. Instant-Trauer zwischen Katzenvideos und Fotos vom Mittagessen – die angemessene Reaktion auf so eine Statusmeldung ist dann traditionell entweder "" oder "Gefällt mir gar nicht" oder "Warum gehen immer die Besten als Erste?" oder, wie im Fall von Haribo-Patron Hans Riegel, die Ankündigung, an diesem Tag nur noch Lakritz essen zu wollen. Wegen schwarz und so. Hihi.
Meike Winnemuth
Die Bestsellerautorin ("Das große Los") schreibt wöchentlich im stern
© Urban Zintel/DPA
Geschmack, Sozialisation oder Generationsfrage?
Das Ganze regt mich deshalb so auf, weil ich neulich bei Lou Reed exakt dasselbe gemacht habe, völlig reflexhaft: Video, Zitat, "Bye". Und mich anschließend geschämt und dann gefragt habe: wieso eigentlich? Wollte ich mich einreihen in die Trauergemeinde, zusammenrücken mit Menschen desselben Geschmacks, derselben Sozialisation oder zumindest derselben Generation?
Auffällig ist ja, um welche Menschen öffentlich besonders intensiv getrauert wird. Auf Anhieb fallen mir aus letzter Zeit ein: Marcel Reich-Ranicki, Wolfgang Herrndorf, Dirk Bach, Susanne Lothar, Ulrich Mühe. Leute, die irgendetwas – das Leben, die Arbeit, die Liebe – anders als wir mit Verve erledigt haben. Die das klarer und entschiedener hinbekommen haben, das mit der Leidenschaft, der Originalität und dem Mut. Oder das mit der Zartheit, der Ernsthaftigkeit und der Wut. "Ach Mensch, der jetzt auch noch", sagt man sich, wenn man von ihrem Ableben hört, und fühlt sich wieder ein bisschen ärmer. Weil wieder einer weniger da ist, bei dem man all das auslagern kann, was man doch selbst im Leben geschafft haben wollte, das Großeganze, das Wichtige. Den Sinn.
Die Kolumne ...
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Jeder macht sich seine Version des Toten
Nur so ist zu erklären, dass für den Tod Wildfremder oft tiefere Trauer empfunden wird als für den der Großtante. Der Vorteil Wildfremder ist ja, dass sich jeder seine eigene Version dieser Person erfinden kann. Für mich war Lou Reed eben nicht der Dauermürrische, als den ihn die Feuilletons posthum beschrieben, sondern derjenige, der bei der Liveversion von "Candy Says" zusammen mit Antony Hegarty feuchte Augen bei Antonys Gesang bekam. Der sich am Ende gerührt die Großvaterbrille zurück auf die Nasenwurzel schob, fast lächelte (Lou Reed, Herrgott!) und dann hilflos applaudierte, die Rechte mit dem Plektrum zur Faust geballt. Keine Ahnung, ob das der echte Lou Reed war, es war halt meiner. Er war, was ich sehen wollte.
Vielleicht spricht also auch die Facebook-Trauer von wahrem Kummer. Man beweint nicht nur den Toten, sondern vor allem die eigene Sterblichkeit. Die, die noch vor einem liegt, und die all jener Träume, die man längst hinter sich hat.