Es ist mitten in der Pandemie, als Julian Schnabel seine Nachbarin und Freundin Laurie Anderson bittet, einführende Worte für das Buch zu schreiben, das er herausbringen will. Ein Schwergewicht voller unterschiedlichster Werke und 750 Euro teuer. Es ist eine dieser Rieseneditionen des Kölner Verlags Taschen. Die 73-jährige Performance-Künstlerin, Musikerin und Filmregisseurin hat nicht so recht Lust, etwas zu schreiben. Die Lebenssituation in New York ist trostlos, die Menschen laufen mit Masken herum oder bleiben zur Sicherheit gleich ganz in ihrer Wohnung. Die Läden haben geschlossen, sind mit Brettern vernagelt, niemand weiß, wann und ob sie jemals wieder aufmachen werden.
Doch dann besinnt sich Laurie Anderson. Sie erinnert sich, wie es früher war. Wie sie und ihr Ehemann Lou Reed, der im Sommer 2020 bereits seit sieben Jahren verstorben war, Nachbarn von Julian Schnabel geworden sind. Welche Rolle der Künstler gespielt hat, damit sie sich in ihrem neuen Viertel, dem New Yorker West Village, wohlfühlen würden. Wie er sie inspiriert hat und ihnen Ideen für die Einrichtung des ehemaligen Frauengefängnisses geliefert hat, in das sie gezogen waren, damit es einmal auch ein Zuhause würde.

Andersons Erinnerungen an die Zeit, in der alles begann, wirken beflügelnd auf sie. Es entstand ein Vorwort, wie es sich Julian Schnabel nicht schöner hätte wünschen können. Voller Respekt und Bewunderung für seine Arbeit, aber auch voller Liebe zu einem Freund, mit dem man einen langen Weg seines Lebens gemeinsam gegangen ist. Wir veröffentlichen einen kleinen Auszug ihrer sehr ausführlichen Einführung, die den Leser auf eine Zeitreise durch die Jahrzehnte und zu unterschiedlichen Orten mitnimmt – und mit dem Wesen des Künstlers vertraut macht.
Liebevolle Worte von Laurie Anderson für ihren langjährigen Freund Julian Schnabel
"Wenn man Julian beim Malen zusieht, sieht man jemanden, der völlig frei ist. Man muss schnell denken, während Bilder auftauchen und unter weißen Pinselstrichen wieder verschwinden. Manchmal übermalt er das Ganze mit weißer Farbe und wäscht dann alles mit einem Gartenschlauch ab. Ich mache eine Pause und schaue ihm nicht mehr zu. Wenn ich nach einer Weile wieder hinsehe, ist alles anders – ein neuer Entwurf. Lauter sich auflösende gekräuselte Linien auf wolligen Flecken.
Auf einmal zittern alle Linien in einer Art Vibrato, die Zeichen sind zu Musik geworden. Ich frage Julian: 'Was ist jetzt los?', und er sagt: 'Ich weiß nicht. Vielleicht sind es action paintings.' Ich liebe die Titel seiner Bilder, die wie Hinweise wirken, Verbindungsglieder zwischen der Welt der Bilder und der Welt der Worte. Zeichen müssen nicht wie Eulen oder Häuser aussehen. Es ist eine visuelle Welt, in der schäumende Formmassen nicht gleich Wolken sind. Ich merke, dass mein Verstand verzweifelt nach Worten sucht. 'Übersetzung! Bedeutung!', fordert er. Dann schalte ich ihn aus. Diese Bilder können ohne Namen auskommen und das ewige Geheimnis in allen Dingen verkörpern."
Ein Freigeist, der sich in der Vielfalt der Kunst austobt
Die Kunst von Julian Schnabel zu erfassen, fällt einem Laien nicht leicht. Der Maler und Filmregisseur kam 1951 in New York als Sohn jüdischer Eltern zur Welt und wuchs in Brooklyn auf, in den 1970er Jahren unternahm er ausgedehnte Reisen nach Europa – da hatte er bereits ein Studium in Texas und zwei Jahre im "Independent Study Program" am Whitney Museum in New York hinter sich. Neben der Malerei begann Schnabel Mitte der 1990er Jahre, sich dem Film zu widmen, sechs Werke entstanden bis 2018.
In einem Dokumentarfilm von 2017 über ihn und seine Kunst sagte er: "Ich male seit 1979 im Freien. Ich arbeite gern draußen. Am Anfang hat es mich gestört, wenn der Wind ein Bild umwarf oder Grashalme im Wachs kleben blieben. Aber dann merkte ich, dass die Vorteile überwiegen. Man sieht die Bilder aus der Ferne und zu verschiedenen Tageszeiten. Es ist wunderbar, draußen zu sein und den Himmel sehen zu können. Man sieht sein Werk bei schlechtem und gutem Wetter. Wenn man ein Bild draußen malt, sieht es auch drinnen immer gut aus."
Ein ungewöhnlicher Künstler, bei dem es sich lohnt, sich mit seinen Werken auseinanderzusetzen. (Okay, 750 Euro für einen Bildband sind eine Ansage, aber auch eine Geldanlage: da das Buch signiert ist, wird der Wert eher steigen.)