Einige Wochen vor den Aufnahmen im Hof der Reichskanzlei war Wilhelm Hübner schon einmal in der Wochenschau zu sehen: Zusammen mit dem Reichspropagandaminister Goebbels. Und schon diese Szene war gespenstisch. In den letzten Kriegswochen nahm die Bedeutung von Goebbels im engeren Machtzirkel um Hitler zu. Die letzte Mission des Reichspropagandaministers wurde es, Hitler darin zu bestärken, den längst verlorenen Krieg weiterzuführen. In Lauban zeichnete Goebbels am 8. März 1945 Soldaten aus. In einer Mini-Offensive war es deutschen Truppen zuvor noch einmal gelungen, die Sowjets ein paar Kilometer zurückzudrängen.
Bild des Elends
Doch wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass die Aufnahmen für Propagandazwecke kaum zu gebrauchen waren. Die Soldaten, die Goebbels begleiten, sind noch vorzeigbar. Doch die Kämpfer aus Lauban nehmen trotz des "hohen" Besuches nur mühsam Haltung an. Sie sind abgekämpft, fertig – man sieht ihnen an, dass sie froh sind, mit dem Leben davon gekommen zu sein. Bis auf einen: den kleinen Wilhelm Hübner. Und auch er wirkt nicht wie ein fanatischer Kämpfer. Der Junge strahlt über beide Pausbacken, als stände er vor dem Weihnachtsbaum in der guten Stube und nicht auf dem zerschossenen Marktplatz.
Nach dem Krieg siedelte Hübner nach Bayern über, in einer Dokumentation der Defa gab er Ende der 1980er Jahre Auskunft über seinen Einsatz. Mit dem Filmteam fuhr er zurück an den Ort der Kämpfe, ins heute polnische Luban. Für Hübner war der Krieg damals ein großes Abenteuer. "Genau dahinter ist das Wäldchen, wo wir als Kinder gespielt haben", erzählt er in die Kamera. "Es war das ideale Kinderspielgelände. Wir haben Krieg gespielt. Und 1945 ist es grausame Wahrheit gewesen."
Ein Kind im Krieg
Das Gelände wurde zum Kriegsgebiet. 1945 diente der Junge als Melder in den vierwöchigen Kämpfen um Lauban. Um jedes Gebäude in dem Ort wurde erbittert gekämpft. Hübner zeichnete sich durch seine Ortskenntnis aus und durch seinen Mut – der wohl eher einer kindlichen Bedenkenlosigkeit entsprach. "Der Gedanke ist tatsächlich da gewesen, was werden jetzt deine Verwandten sagen, wenn es heißt, der Wilhelm ist in Lauban für uns gefallen", erinnert er sich als fast 60-jähriger Mann.
Dass er überlebt hat, führt Hübner auch auf seine Größe zurück. Er sei immer der Kleinste gewesen, die Kugeln seien über ihn hinweggeflogen. Und auf sein Glück. "Ohne Glück bist du im Krieg nichts." Auf seinen Schulhof seien vier oder fünf Stalinorgel-Granaten eingeschlagen. "Ich war mitten in dem Feuerzauber dringelegen - kein Kratzer."
Der ganze Krieg ist in seiner Erinnerung ein Abenteuer wie die Schatzinsel. Hübners Gedächtnis hat die schlimmsten Erlebnisse einfach gelöscht. Er erinnert sich genau an einzelne Häuser und die Position ausgebrannter Panzer, doch Tote und Verletzte nehmen in seinem Gedächtnis keine Gestalt an. Ganz so, als seien sie sorgsam ausradiert wurden. "In der Gasse war ein Schnapsladen. Da habe ich mir eine Flasche Eierlikör geholt und dann hab ich mich mit meiner Flinte hinter einer Mauer versteckt und hab mich erst mal vollaufen lassen, wie man so schön sagt, und dann ab und zu einen Schuss rausgegeben und wieder hinter der Mauer versteckt." Nur einmal wird Hübner nachdenklich und sagt, es sei eine große Erleichterung, dass er nie gesehen habe, dass seine Schüsse jemand getötet hätten.
Hitler war ein gebrochener Mann
Nach dem Besuch von Goebbels kam die Einladung nach Berlin. Zuerst in das Gästehaus des Reichsjugendführers Axmann und am 19. März dann in die Reichskanzlei. Die Gruppe trat in einem Hof an, erinnert sich Hübner. Dann kam Hitler und hat jeden begrüßt. "Nach meiner Meldung hat er mir die Wange gestreichelt und hat so ungefähr gesagt: 'Brav, mein Junge'." Dann ist er wieder gegangen mit seinem Schäferhund, so Hübner weiter. Während der Begegnung habe er überhaupt nicht nachdenken können, dafür sei er zu aufgeregt gewesen. Später erkannte er, dass Hitler ein "gebrochener Mann" gewesen, das habe man gesehen. Er habe nur gedacht, "unser Adolf ist ein alter Mann geworden".
Quelle: Zwei Leben. DEFA 1988
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