Magersucht bei Männern Wenn Hungern die Gefühle ersetzt

Anfangs dachten alle, er wolle nur ein bisschen sportlicher sein. Dann rutschte Benedikt Sturm in eine besonders aggressive Form der Magersucht ab. Er hungerte und erbrach das Wenige, was er aß.

Vier Jahre lang führte Benedikt Sturm ein Doppelleben. Nach außen der nette Sportstudent mit dem festen Händedruck. "Aber in mir drin war ich total unsicher. Ich konnte nie nein sagen und brauchte immer ganz viel Harmonie um mich herum." Dementsprechend viel gab Benedikt auf die Meinung anderer. Auch in Bezug auf seine Figur.

Als er 2003 sein Abitur machte, wog er 87 Kilo bei 1,87 Meter. Beim Fußball war er der große, starke Kerl im Mittelfeld, an dem keiner vorbei kam. Nach dem Abi schrieb sich Benedikt zum Sportstudium in Gießen ein. Kommilitonen sprachen ihn an: "Mensch, nimm doch ein bisschen ab. Dann bist Du schneller auf dem Platz. Besser aussehen würd's auch." Das saß. Benedikt verkniff sich die Süßigkeiten und frühstückte nicht mehr. Sport trieb er an der Uni sowieso ständig. Nach einem Jahr in Gießen brachte er nur noch schlanke 70 Kilo auf die Waage. Aber Benedikt wollte noch schlanker, noch trainierter und sehniger werden. Statt in der Mensa aß er mittags nur noch zwei trockene Brötchen, um den Magen zu füllen. Ab da war das Abendessen zuhause mit den Eltern seine einzige Mahlzeit am Tag.

Mit Magenschmerzen zum Hausarzt

Ende 2005 wog Benedikt noch 60 Kilo. Durchsprinten oder zwei Halbzeiten mit der Mannschaft auf dem Platz spielen konnte er längst nicht mehr. Kurz vor Weihnachten streikte sein ausgezehrter Körper. Mit Magenschmerzen und Erbrechen ging er zum Hausarzt. Als der nichts finden konnte, "war das für mich ein echter Tiefschlag. Schließlich war ich der Meinung, mein Stoffwechsel sei nicht in Ordnung. Dass ich magersüchtig war, darauf wäre ich im Traum nicht gekommen."

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Aus dem Erbrechen wurde bald Gewohnheit: ein willkommener Ausweg, um noch mehr Kalorien loszuwerden. Benedikt brauchte sich noch nicht einmal den Finger in den Hals zu stecken: "Ich habe nach dem Abendessen einfach anderthalb Liter Cola oder süßen Saft in mich rein gekippt, dann wurde mir so schlecht, dass ich brechen konnte." Die Eltern ahnten, dass mit ihrem dürren Sohn etwas nicht stimmte. Auf eine Magersucht kamen sie jedoch nicht: "Ich habe ja zu Hause abends immer gut gegessen. Und beim Übergeben habe ich im Bad das Radio laut gedreht." Als Benedikt die 55-Kilo-Marke riss, wurde ihm schon beim Treppensteigen schwarz vor Augen. Die Körperfettwaage seiner Mutter zeigte bei ihm nur noch "Error" an.

Zusammenbruch in den Bergen

Der Zusammenbruch kam beim Wanderurlaub in Österreich. Allein wollte er auf eine Tagestour, hoch in die Berge bei Oberlech. "Ich hatte so gut wie nichts gegessen und zu wenig getrunken. Irgendwann muss ich beim Aufstieg kollabiert sein. Ich kann mich nur erinnern, wie ich zusammengekrampft auf dem Boden wieder wach wurde." Der Student schleppte sich ins Tal, brach ein zweites Mal zusammen. Wanderer fanden ihn und riefen einen Notarzt.

Heute sieht Benedikt den Alptraum von Oberlech wie eine Erweckung: "Es klingt vielleicht zynisch, aber so ein Erlebnis kann ich vielen Essgestörten nur wünschen. Bei mir war das der Wendepunkt, an dem ich begriffen habe, dass ich ernsthaft krank bin." Abends rief er aus der Klinik zu Hause an, erzählte Bruder und Eltern, was ihm passiert war. Und beichtete, dass er schon lange nicht mehr richtig aß. Zum ersten Mal fiel in der Familie das Wort Magersucht.

Wieder in Deutschland angekommen, willigte Benedikt ein, sich untersuchen zu lassen und eine Therapie zu beginnen. Die Wartezeit auf den Platz in einer Klinik wurde zur schlimmsten Episode seines Lebens: "Ich wusste ja jetzt, ich bin magersüchtig. Aber ich konnte nicht aufhören mit dem Hungern. Und immer, wenn das Telefon klingelte, dachte ich nur noch: Hoffentlich ist es die Klinik und ich kann hinfahren." Nach acht Wochen kam Benedikt in die Klinik Roseneck in Priem am Chiemsee, auf eine Station für Essgestörte. Bulimische Anorexie diagnostizierten die Ärzte bei ihm, eine Magersucht mit Erbrechen, bei der die Patienten oft besonders dramatisch abmagern. Auch Benedikt hatte am Ende mehr als 30 Kilo an die Krankheit verloren.

Gefühle zeigen

In der Therapie war der Student anfangs hin und her gerissen: zwischen der Scham, "dass ich als Mann was hab, was sonst nur Frauen kriegen", und dem Wunsch, zu verstehen, was ihn dazu gebracht hatte, sich fast zu Tode zu hungern. In der Bewegungstherapie, bei einfachen Übungen auf Matten, beim Boxen in einen Sandsack entdeckte Benedikt wieder, wie es sich anfühlt, einen Körper zu besitzen. Lernte, sich wieder einzufühlen in dessen Grenzen. In der Psychotherapie erkannte er, wie verschlossen er, der nette Student, all die Jahre gewesen war: "Mir ist klar geworden: Mein Thema ist Gefühle zeigen. Früher habe ich alles immer nur mit mir selbst ausgemacht."

In diesen Tagen wird Benedikt Sturm wieder nach Hause entlassen, zu seinen Eltern. Er will es langsam angehen lassen, seinen Körper behutsam wieder aufbauen. Wieder mit Genuss essen, vielleicht auch öfter mal kochen. Das hat er in der Lehrküche der Klinik ausprobiert. Und es hat Spaß gemacht. Wenn er sich wieder fit fühlt, will der inzwischen 23-Jährige seine letzten Sportprüfungen bestehen: "Schwimmen, Turnen und Leichtathletik. Dafür fehlte mir während der Magersucht immer die Kraft."

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