Das Britische Museum in London ist ein Ort von erhabener Größe und Schönheit und Stil. Es gehört zu den besten der Welt, und Ausstellungen, die es dorthin schaffen, gelten per se als sehenswert, weil der Anspruch der Kuratoren ungefähr so ist: Nur das Beste vom Besten kommt in unsere Hallen.
Seit Anfang März läuft dort die pompöse Schau "Wikinger - Leben und Legende" in der neuen "Sainsbury Exhibition Gallery", auf 1100 Quadratmetern, absolut State of the Art. Und das Interesse daran gibt den Organisatoren Recht: Es ist jeden Tag ausverkauft, wer die Ausstellung sehen will, wird in weiser Voraussicht gebeten, bitte rechtzeitig online zu buchen. Man kriegt dann einen Time-Slot zugewiesen, um sich nicht gegenseitig auf den Füßen zu stehen.
In der Theorie eine durchaus hübsche Idee, die aber in der Praxis nicht funktioniert, weil es jeden Tag so voll ist, dass man sich doch auf die Füße tritt oder wenigstens Rucksäcke in die Lenden gerammt bekommt. Die Ausstellung ist schon jetzt die vom Andrang her dritt erfolgreichste in der Geschichte des ohnehin erfolgreichen Museums. Man könnte auch so sagen: Die Wikinger sind einfach nicht totzukriegen.
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Manches kommt zu kurz
Wer es dann schafft ins Britische Museum, kann die Strahlkraft durchaus nachvollziehen. Obwohl es reichlich dunkel losgeht in engen (zu engen) Gängen mit Schaubildern und den Exponaten – Broschen und Ketten, Edelsteine, Münzen – und Sagen in altnordischer Sprache, die auf die Gäste aus Lautsprechern niedersäuseln und irgendwie Skandinavisch klingen, na klar, und irgendwie doch fremd. Rätselhaft auf jeden Fall, wie vieles was die Wikinger umweht: Seefahrer, Piraten und Plünderer, die zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert über Mitteleuropa herfielen und brandschatzten und raubten. Das ist historischer Fakt, und daran lässt die Ausstellung auch keinen Zweifel. Andererseits große Entdecker, Handelsreisende und Diplomaten. Auch daran kein Zweifel. Aus diesem Spannungsfeld speist die Schau ihre Energie.
"Leben und Legenden" bestätigt viele Klischees – und räumt mit vielen auf. Gleichwohl sind die Kritiken nicht nur euphorisch. Die multimediale Aufbereitung? Bestenfalls dürftig, die Aufmachung ein bisschen bildungsbürgerhaft, im besten Sinne altmodisch, jedenfalls wenig kompatibel mit Twitter-, Instagram- und Facebook-Klientel. Der Kunstex-perte des "Guardian" empfand die Sammlung obendrein als "blutleer"; er vermisste vor lauter Schüsseln und Ketten und Knochen die Geschichten hinter der Geschichte. Die der Gottheiten etwa. Am Rande wird nämlich nur Thor erwähnt, der mit dem Hammer, und Odin. Am Rande und ganz am Ende nur kommen die Christianisierung und das Ende der Wikinger-Kultur vor. Und ebenso am Rande nur finden sich die Instrumentalisierung der nordischen Mythologie durch die Nazis oder die Weigerung der Sowjets, den skandinavischen Einfluss auf die slawischen Völker anzuerkennen. Und dieser Einfluss war immens.
Brutal und feinfühlig
Die Wikinger waren schließlich grandiose Ingenieure, die mit ihren schlanken Schiffen das Wasser als Freund begriffen und das Meer als Passage der Abenteuerlust. Eine Abenteuerlust, die sie nach Russland und in die Ukraine trieb, wo sie siedelten, die sogenannten Rus. Die sie immer weiter trieb, bis nach Zentralasien im Osten. Und an die Küsten Nordamerikas im Westen. Sie waren beides – Eroberer und Händler. Brutal und feinfühlig. Entsprechend verstörend wirkten sie auf manche Zeitzeugen. Der arabische Diplomat Ahamd Ibn Fadlan hatte "noch nie perfektere Körper" gesehen. Und hielt sie zugleich für die "dreckigsten Kreaturen Gottes". Er notierte um 920 nach einer Reise ins Reich der Wolgabulgaren: "Sie reinigen sich nicht nach dem Urinieren und Koten. Sie waschen sich nicht nach dem Sex. Sie sind wie wandernde Ärsche."
Ein anderer Reisender aus dem islamischen Teils Spaniens wunderte sich über die für seinen Geschmack etwas zu einseitige Ernährung (Fisch, Fisch und noch mal Fisch) und den scheußlichen Gesang der Bewohner von Hedeby (Haithabu), die ihn an das Bellen von Hunden oder "noch schlimmeren wilden Tieren" erinnerte. Was, wer weiß, vielleicht auf den übertriebenen Einsatz des Honigweins Met schließen lässt, obschon kluge nordische Chronisten vor eben solchen Exzessen warnten: "Ein Mann sollte sich nicht an seinen Becher klammern", er solle beim Trinken auch nicht zu viel reden oder, noch besser, ganz den Mund halten. Das galt schon vor 800 Jahren.
Am Ende wartet Roskilde 6
Solche Sachen lernt man in der Ausstellung auf Tafeln entlang der Schaukästen, darunter der berühmte Goldschatz von Hiddensee oder der Silberfund von Harrogate, 617 Münzen und andere Klimpereien, entdeckt von Hobby-Schatzsuchern vor gerade sieben Jahren. Außerdem: Verblüffend modern anmutende Armreifen und Ketten aus Gold und Silber, zierlich und geschwungen für die moderne Frau von damals. Wohingegen der Mann von damals gerne Schwert und Axt bei der Eroberungsarbeit trug und auf dem Kopf konisch geformte Helme. Davon auch jede Menge in London.
Die Ausstellung
"Wikinger - Leben und Legende" ist noch bis zum 22. Juni im #link;https://www.britishmuseum.org/Britischen Museum in London# zu sehen. Im September kommt sie nach Deutschland, dann können die Exponate im Martin-Gropius-Bau in Berlin betrachtet werden.
Nach zirka einer Stunde Schmuck, Waffen und Knochen nähert man sich gemäßigten Schritten, man möchte ja niemanden rempeln, dem erklärten Höhepunkt der Veranstaltung. Meeresrauschen nunmehr aus den Lautsprechern – und dann liegt es da: die Rekonstruktion des bislang größten geborgenen Wikingerschiffes. Roskilde 6, 37 Meter lang, gehoben 1997, gebaut vermutlich um 1025. Etwa 20 Prozent des Rumpfes aus Eichenholz sind noch erhalten. Ebenso ein "Styrisboard", ein Steuerbrett – und Ursprung des Wortes Steuerbord (rechts). Ein Schiff für 100 Mann, 50.000 Arbeitsstunden steckten da drin. In einem Wort: gewaltig. Immer noch. Man würde gerne wissen, wohin es seine Besatzung trug, über welche Flüsse und Meere. Es wird ein Rätsel bleiben, wie vieles. Genau das macht den Reiz aus. Genau deshalb lebt der Mythos. Und die Wikinger-Legende darf weiterziehen – im September nach Berlin.