Fast hätte der Arzt das Wichtigste übersehen. Aber Herr Fischer ist ein hilfsbereiter Patient. "Doc", sagt er besorgt im breiten Ruhrpott-Tonfall, "mein Hausarzt hat gesagt, ich sei ganz gelb im Gesicht. Finden Sie das etwa auch?" Der Arzt tritt einen Schritt näher ans Krankenhausbett, beugt sich vor, schaut genau, tatsächlich, da stimmt etwas nicht: Herr Fischer ähnelt einer Aprikose, farblich gesehen. "Ihr Hausarzt hat Recht, Sie sind wirklich gelb", sagt der Arzt. Erleichtertes Kichern dringt durch den großen Spiegel an der Wand. Herr Fischer streicht die Bettdecke glatt, hustet heiser, tief aus den Bronchien heraus. Das ist der nächste Hinweis, mal sehen, ob der Doktor den jetzt bemerkt.
Patienten spielen Krankheiten vor
Denn Patient Fischer ist gar nicht krank. Sein blauer Flanell-Schlafanzug, das karge Krankenhauszimmer mit Linoleum-Boden und Neon-Röhren, der scharfe Geruch nach Desinfektionsmitteln - das alles ist Kulisse für eine Unterrichtsstunde. Herr Fischer heißt in Wirklichkeit Volker Kuhlhüser, ist Leiter des Theaterpädagogischen Zentrums in Münster und so gelb ist er nur, weil er sich eben eine Portion Theaterschminke ins Gesicht gerieben hat. Der junge Mann im weißen Kittel ist kein Arzt, sondern will noch einer werden: Simon Call ist Münsteraner Medizinstudent im vierten Semester. Und hinter der verspiegelten Scheibe im Krankenzimmer sitzen - wie im Krimi der Kommissar beim Verhör - fünf Kommilitonen und schauen bei einer Mutprobe zu: Das erste Mal tritt Call als "Arzt" an das Bett eines Patienten und macht eine Anamnese, versucht herauszubekommen, was dem Patienten fehlen könnte.
"Wie ist Ihr Stuhlgang? Wurden Sie schon einmal operiert? Rauchen Sie?", Schritt für Schritt tastet sich Call an die Krankengeschichte seines Patienten heran. Etwas linkisch steht der Student mit dem Pferdeschwanz anfangs neben dem Krankenbett, doch mit jeder Frage gewinnt er Sicherheit. Ein Spiel, aber nicht nur zum Spaß. Denn bis vor kurzem wussten frisch examinierte Mediziner zwar alles über den Zitronensäurezyklus oder die DNA-Replikation und konnten die dreizehn Äste der Halsschlagader vor- und rückwärts aufsagen. Aber wie man ein gutes Gespräch mit Patienten führt, was man wirklich tun muss, wenn man am Krankenbett steht, davon wussten sie nach dem Studium so gut wie nichts. 2003 wurden die Vorschriften für die Zulassung als Arzt deshalb geändert: Viel mehr Praxisbezug soll nun ins Studium einfließen: Die Studenten hören weniger Vorlesungen und erarbeiten dafür den Stoff in kleinen Gruppen selbst. Und sie müssen ihr theoretisches Wissen aus den einzelnen Fachbereichen der Medizin anhand von Fallgeschichten miteinander vernetzen. Seither experimentieren die Universitäten mit "Skills Labs", in denen angehende Mediziner an blutbetankten lebensgroßen Puppen Blut abnehmen und Zugänge legen. Oder sie werden mit Simulationspatienten konfrontiert, die verschiedene Krankheitsbilder vorspielen und untersucht werden müssen.
Studenten sollen angstfrei lernen
Hier in Münster gehen die Verantwortlichen noch einen Schritt weiter. Ein ganzes Studienhospital haben sie bauen lassen: Mit vier normalen Krankenzimmern und zwei Intensiv-Räumen, mit Krankenhausbetten, blinkenden Notrufen und Spendern mit Desinfektionsmitteln vor jeder Tür. Und mit Schauspielern, die in Pyjama und Bademantel im Flur herumschlappen oder im Bett liegen und von einem Arzt darauf trainiert wurden, "ihre Krankheit" möglichst echt darzustellen.
Im Intensiv-Zimmer piepst der Monitor, hoch, hoch, tief, dabei zucken rote und grüne Linien über den Bildschirm. Mit hilflos aufgerissenem Mund liegt eine mannsgroße Puppe zwischen der Technik. An ihr sollen die Studenten Wiederbelebung und Beatmung trainieren. Noch riecht sie nach Gummi, doch alkohlgetränkte Wattebäuschchen und Latexhandschuhe werden auch an ihr bald die krankenhaustypischen Duftspuren hinterlassen. Echte Geräusche, Gerüche, Geräte - all das gehört zum Konzept. "Aus der Lernpsychologie ist bekannt: "Wer etwas in einer bestimmten Situation lernt, kann sich daran viel besser erinnern, wenn er wieder in der gleichen Situation ist", sagt Bernhard Marschall, Studiendekan der Medizinischen Fakultät. Wer hier die Puppe erfolgreich wiederbelebt hat während der Überwachungsmonitor Alarm schrillt, der wird die Handgriffe auch beherrschen, wenn es wirklich um Leben und Tod geht, so der Gedanke hinter dem Studienhospital. Wenn sich ein Student beim Patientengespräch etwas forsch auf das Krankenbett gesetzt hat, und im Feedback-Gespräch vom Simulationspatienten zu hören bekommt, dass das ja wohl ziemlich unverschämt war, dann wird ihm das drüben in der echten Uniklinik sicher nicht noch mal passieren. Und auch Medizinstudent Simon Call wird in Zukunft ganz genau nach der Gesichtsfarbe seiner Patienten schauen.
"Die Studenten sollen hier angstfrei lernen und dadurch Sicherheit und Routine gewinnen", sagt Marschall, der auf die Idee mit dem Studienhospital kam, weil im Klinikalltag immer weniger Zeit bleibt, die angehenden Mediziner in Ruhe anzuleiten und ihre Arbeit zu besprechen. Bald wollen sie hier auch den Alltag auf Station trainieren, mit voll belegten Zimmern, Notfällen und plötzlichem Stromausfall. Und im Nachbargebäude soll bald eine simulierte Allgemeinarzt-Praxis entstehen, in der die Studenten den anstrengenden Hausarzt-Alltag kennenlernen.
"Sobald man ans Krankenbett tritt, fühlt sich das total echt an"
"Trinken Sie eigentlich?" will Simon Call jetzt von seinem gelbstichigen Simulanten wissen. "Wissen Sie, ich bin Bauarbeiter, und wer viel arbeitet, soll ja viel trinken. Bier trinke ich, aber keinen Alkohol", gibt der zurück. Die Mitstudenten im Nebenraum kichern, doch Call versucht, ernst zu bleiben. Viel Bier, fragt er, und als er herausbekommt, dass es so um die sechs Flaschen am Tag sind, entspannt er sich sichtlich. Irgendwas mit der Leber hat der Patient, ist sein Verdacht, und damit liegt er richtig.
Ganz gut sei er gewesen, loben ihn hinterher die Kommilitonen, die über eine Kamera im Krankenzimmer und den halb durchlässigen Spiegel aus dem Nebenraum alles beobachten konnten. Und auch Scheinpatient Volker Kuhlhüser, der den Dortmunder Bauarbeiter mit Leberzirrhose gibt, hat nichts auszusetzen. Im echten Leben geht er nur ungern zu Ärzten, lieber zu Heilpraktikern, weil die sich mehr Zeit nehmen. "Ich bin schon stolz, dass ich mithelfen kann, dass die angehenden Ärzte lernen, menschliche Gespräche zu führen, nicht so überheblich mit Patienten umzugehen", sagt Kuhlhüser. Simon Call lacht, erleichtert, und auch ein bisschen stolz, dass er sich getraut hat, in die Arztrolle zu schlüpfen: "Sobald man ans Krankenbett tritt, fühlt sich das total echt an. Man weiß zwar, dass man spielt, aber man merkt das gar nicht mehr", sagt er. Kein Wunder. Die Simulanten seien schließlich richtig gut, sagt Markus Masin, der Arzt, der die Schauspieler einen Monat lang ausgebildet hat: "Ganz ehrlich: In der Klinik wäre ich darauf hineingefallen."