"Backbord voraus: Eisbärmutter mit Kind!" Kühl kommt die Stimme des Wachoffiziers durch die Lautsprecher. Wer gerade keine Pipette mit einer Wasserprobe in der Hand hat, rennt zur Reling oder auf die Brücke, um das Naturschauspiel zu sehen. Eine voluminöse Bärenfrau mit mächtigen Zotteln trottet und tänzelt vor dem Schiffsbug von Eisscholle zu Eisscholle. Dahinter zwei putzige Junge, die ihr folgen und manchmal in offene Wasserspalten purzeln. Ein Highlight für alle, die normalerweise die Könige der weißen Wildnis nur in Gefangenschaft erleben. Und sicher auch für die Eisbärin, die gelegentlich staunend rüberschaut: Wann bekommt sie sonst so merkwürdige Gestalten in einem Gehege mit Bullaugen zu sehen?
Zur Person
Wolfgang Metzner (links) arbeitet seit 1979 für den stern, er ist Reporter im Ressort Deutschland & Gesellschaft. Zuletzt ist er mit einem deutschen U-Boot im Skagerrak in 250 Meter Tiefe abgetaucht. Fotograf Dawin Meckel war bereits bei Reportagen in Alaska, Namibia, Südafrika und Vietnam mit der Kamera unterwegs.
Die "Polarstern" kreuzt mit 37 Forschern und 45 Besatzungsmitgliedern vor Nordost-Grönland, um den arktischen Ozean im Zeichen des Klimawandels zu untersuchen. Rund vier Wochen sind seit dem Auslaufen aus Spitzbergen verstrichen, und für die meisten an Bord verschwimmt die Zeit längst wie der Horizont, der sich im Nebel verliert. Die Nächte sind taghell, die Tage haben keinen Anfang und kein Ende. Ist es jetzt sieben Uhr abends oder vier Uhr früh? Freitag oder Sonntag? Wie ein Anker in der Drift ist nur eine Regel: "Samstags gibt es immer Eintopf", sagt Fahrtleiter Gerhard Kattner. Der 59-jährige Professor für Meereschemie koordiniert die wissenschaftlichen Projekte an Bord und versucht, den Wünschen aller Arbeitsgruppen gerecht zu werden. Und deren Betrieb geht oft rund um die Uhr.
Ein Seebär als Kapitän
Arne, orangefarbener Helm auf dem Haupt, holt wieder mal lange nach Mitternacht den Wasserschöpfer mit der Winde vom Meeresboden und dirigiert das triefende Ungetüm auf die Schiffsplanken. Eva, in gelben Gummistiefeln, zapft daraus Proben für ihre Sauerstoff-Analysen, bald werden es über zweitausend sein. Im Raum daneben freut sich Dorte wie ein Schneekönig über ein winziges Stück Tiefsee-Schwamm, das sie mit dem Skalpell bearbeitet. Edi filtert in aller Ruhe Plankton aus einer Wasserprobe, während Louis Armstrongs traurige Jazz-Trompete aus dem Labor dringt. Aber auch um diese Zeit hat niemand den Blues hier, und alle duzen sich in dieser reisenden Kommune - bis auf den Kapitän.
Uwe Pahl, 60, führt seit 1996 das Kommando auf der "Polarstern". Der freundliche Fahrensmann aus Pommern war früher wie ein Großteil der Besatzung bei der DDR-Handelsmarine und ist Kapitän in 5. Generation. Den Rat seiner Mutter, doch lieber einen "anständigen Beruf" zu lernen, hatte er ausgeschlagen, und so steuert der Tropenliebhaber jetzt Jahr für Jahr einen Eisbrecher durch Arktis und Antarktis. Mit dem wuchtigen 12.000-Tonner war er schon in 25 Meter hohen Wellenbergen, die gegen die Brücke schlugen, und zwischen Eisplatten, die das eingekeilte Schiff fast einen Meter in die Höhe hoben und die 5,8 Zentimeter starken Stahlplatten ächzen ließen. Kein Grund zur Sorge für Pahl: "Der Zustand des Dampfers ist immer noch exzellent."
"Polarstern" ist ein Treibstofffresser
26 Jahre fährt Deutschlands größtes Forschungsschiff jetzt schon um den Globus, bestellt im Sommer mit seinen Messinstrumenten den "Hausgarten" in der Framstraße und versorgt im Winter die Neumayer-Station am Südpol. Und dafür braucht der doppelwandige Riese, der in Kiel und Rendsburg gebaut wurde, wirklich Stoff: "Wir verbrennen im Schnitt pro Tag 30 Tonnen Dieselöl", sagt Chefingenieur Ole durch den Lärm im Maschinenraum ganz unten, "eine Menge, mit der man ein normales Einfamilienhaus länger als zehn Jahre heizt."
Über die Kosten stöhnt nicht das Bundesministerium für Bildung und Forschung, dem das Schiff gehört, sondern der Betreiber: das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Über 7000 Wissenschaftler hat das AWI-Flaggschiff bisher auf 46 Expeditionen über die Weltmeere transportiert. Allerdings leiden die Ozeanographen, Chemiker und Biologen, die jetzt an Bord sind, längst nicht mehr solche Entbehrungen wie der Namensgeber des Instituts, der deutsche Grönland-Pionier Alfred Wegener, der 1930 bei Temperaturen um minus 50 Grad Celsius im Eis umkam. Im Gegenteil.
Wellness in den Forschungspausen
Auf dem "Luxusliner der Forschung" offeriert das Küchenteam dreimal am Tag mehrgängige Speisen, dazu nachmittags noch Kuchen. Wer zu viel sündigt, kann am Sonntag - statt zur Kirche - zum Klub der Weightwatchers gehen. Zum Glück gibt es für Fitness-Freaks auch ein "Gym", wo man die Muskeln spielen lassen und sogar über Wasser laufen kann, wenn auch nur auf einem rotierenden Gummiband. Und der gut geheizte Pool daneben, in dem immer wieder heiße Wasserball-Schlachten stattfinden, ist ein Wellenbad, das man an Land nicht findet: Die Brecher darin werden vom Schiff produziert, das im Seegang schwankt.
Bei Forschungspausen bietet die "Polarstern" auch noch andere Möglichkeiten. Im getäfelten "Blauen Salon", der mit Wappen und Wimpeln internationaler Besuchergruppen von Murmansk bis Puntas Arenas geschmückt ist, kauert Christine neben dem gekachelten Kamin, während Martin in der Bibliothek nach Berichten historischer Polarforscher stöbert. Hilger, der auf dem A-Deck die nördlichste Wetterwarte Europas betreibt, sammelt im "Roten Salon" seine Doppelkopf-Runde. Und im "Zillertal" wird zwar nicht gejodelt, aber dreimal pro Woche Bier gezapft.
Ein Polarvirus geht um
Und wo außer auf der "Polarstern" kann man in einer Sauna schwitzen, während ein paar Dezimeter weiter das Eis gebrochen wird und die Brocken krachend vorbeipoltern? Wo sonst hat man das Gefühl, dass man mitten on the Rocks säße? Wo kann man dann gegen Mitternacht raus aufs Deck zum Chill-Out, die Sonnenbrille auf der Nase, glitzernde Schollen im Blick?
Das "schwimmende Labor" hat nicht nur Spitzenwissenschaft an Bord, sondern auch etwas, das einen leicht infizieren kann und manche immer wieder hier herzieht: das Polar-Virus. "Unbehandelbar", sagt Schiffsarzt Wolfgang, Chirurg aus Hamburg. Er hat eine Menge Medikamente in seinem Lazarett, aber dagegen nichts.