Eigentlich sind Dicke gar nicht fresssüchtig. Eher drogenabhängig. Denn dauerhaftes Überfuttern kann im Gehirn ähnlich wirken wie Marihuana. Jetzt haben Wissenschaftler offenbar erstmals ein Mittel für den Entzug gefunden: Ein neuer Wirkstoff namens Rimonabant soll Fresssüchtige vom Kühlschrank fernhalten und ihnen helfen abzunehmen.
Die Hoffnungen der Forscher stützen sich auf die Ergebnisse einer großen europäischen Studie, die gerade im Fachblatt "The Lancet" veröffentlicht wurden. Dafür hatte man 1507 Probanden aus Deutschland, Belgien, Finnland, Frankreich, Schweden, den Niederlanden und den USA auf Diät gesetzt. Menschen, die entweder extrem dick waren oder die zusätzlich zu ihrem Übergewicht mit Risikofaktoren wie ungünstigen Blutfettwerten oder Bluthochdruck lebten. Eine Test-Gruppe erhielt neben der Diät täglich eine hoch dosierte Rimonabant-Tablette, eine andere eine niedrig dosierte und eine dritte Gruppe nur ein Placebo.
Nach einem Jahr hatten die Probanden mit der höchsten Dosis am meisten abgespeckt: im Schnitt knapp sieben Kilo. Die Patienten mit der niedrigen Dosis brachten es noch auf drei, die Placebo-Schlucker auf knapp zwei Kilogramm. Gleichzeitig verbesserten sich vor allem in der ersten Gruppe die Werte für Cholesterin, Blutfette sowie Insulin. Und das Mittel erwies sich als gut verträglich. Einziger Wermutstropfen: Etwa 40 Prozent der Probanden hielten nicht bis zum Ende durch. Da die Abbrecher-Rate aber in allen Gruppen ähnlich hoch war, könnte auch die Test-Diät schuld gewesen sein.
Die guten Ergebnisse stimmen überein mit denen anderer Zulassungsstudien des Herstellers Sanofi-Aventis im so genannten RIO-Programm (Rimonabant In Obesity, engl. für: Rimonabant bei starkem Übergewicht). Jetzt steht der Wirkstoff kurz vor der Zulassung: "Wenn in den USA alles glatt geht, sind wir dort im ersten Halbjahr 2006 auf dem Markt. In Europa wird Deutschland eines der ersten Länder sein. Da rechnen wir für Herbst 2006 mit der Einführung", sagt Marc Cluzel, Entwicklungschef von Sanofi-Aventis in Paris.
Das Wirkprinzip der Tablette
ist völlig neu: Rimonabant greift in das so genannte Endocannabinoid-System im Körper ein: Wie eine eingespielte Mannschaft steuert diese Gruppe von Substanzen, wie viel wir essen. Dreh- und Angelpunkt ist der CB1-Rezeptor (CB für "Cannabinoid"), eine winzige Andockstelle für Botenstoffe, die dem Körper entweder "Iss mehr!" oder "Schluss jetzt!" signalisieren. Solche Rezeptoren sitzen an Zellen im Gehirn, im Fettgewebe oder Magen-Darm-Trakt.
Auch der berauschende Inhaltsstoff von Marihuana, das Tetrahydrocannabinol, kann diese Ankerplätze besetzen und kurbelt dann das gesamte Endocannabinoid-System an. Die Folge sind hemmungslose Essanfälle nach Haschisch-Genuss. Wissenschaftler haben nun festgestellt, dass das Kontrollsystem auch bei dicken Menschen entgleisen kann, möglicherweise durch zu fette Kost. Dann signalisiert der Körper dauernd Appetit: Die Übergewichtigen können fast nicht mehr aufhören zu essen. Ähnliches passiert Nikotinsüchtigen, die ständig zur Zigarette greifen müssen: Auch bei ihnen spielt das Endocannabinoid-System verrückt.
Rimonabant soll dem nun ein Ende setzen: Es blockiert CB1-Rezeptoren und verhindert so, dass das Endocannabinoid-System aktiviert wird. Dadurch wird der Appetit gezügelt. In verschiedenen Studien mit Rauchern zeigte sich außerdem, dass unter Rimonabant-Behandlung mehr Patienten mit dem Rauchen aufhörten. Sie blieben auch nach zehn Wochen noch abstinent und nahmen nicht zu, was viele nach Absetzen der Zigaretten fürchten.
Die Amerikanische Vereinigung für Herzkrankheiten rechnet Rimonabant zu den Top Ten der Medizinfortschritte 2004. Allerdings soll das Medikament nach Angaben von Sanofi-Aventis keine neue Lifestyle-Pille werden, die mal eben ein paar lästige Pfunde schmelzen lässt. Daher wird das Mittel verschreibungspflichtig sein.
Experten sehen Rimonabant nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zu Diät und Bewegung: "Einfach nur für ein paar Wochen eine Pille zu schlucken ist Unsinn. Man muss sich als Patient natürlich weiter gesund ernähren und Kalorien sparen," sagt Hans Hauner, Direktor des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin in München. Sinnvoll sei ein solches Präparat vor allem für sehr dicke Menschen. Oder für Patienten, die Übergewicht und zusätzliche Risikofaktoren wie Diabetes, ungünstige Blutfette oder Bluthochdruck hätten. "Auch Rimonabant ist kein Wundermittel. Die Chancen stehen aber gut, dass wir dicken Patienten damit helfen können. Auch solchen Leuten, die schon mit Diäten und Ernährungsberatung gescheitert sind."