Zuerst das Vorurteil: Je mehr Zuwanderer nach Deutschland kommen, umso stärker wachsen die Vorbehalte der Einheimischen gegenüber Migranten. Darum muss man ganz vorsichtig sein mit den Deutschen und darf sie auf keinen Fall mit zu vielen Fremden überfordern.
Jetzt die Realität, in Zahlen: 2014 sind etwa 680.000 Menschen nach Deutschland eingewandert, 200.000 davon als Flüchtlinge. Bei dieser Zahl sind Auswanderer schon abgezogen. 2010 betrug dieser "Wanderungssaldo" noch 180.000. In nur vier Jahren erlebte das Land demnach eine beinahe explosionsartige Steigerung um das Dreieinhalbfache. In absoluten Zahlen ist Deutschland inzwischen zum zweitbeliebtesten Einwanderungsland in der OECD aufgestiegen, nach den USA. Pro Kopf nimmt Deutschland jedoch gut doppelt so viele Einwanderer auf wie die Vereinigten Staaten und sogar mehr als Kanada.
Die meisten Einwanderer fühlen sich willkommen
Würde das Vorurteil zutreffen, müsste parallel zur Einwanderung auch die Ablehnung der Fremden ansteigen. Doch exakt das Gegenteil geschieht: Deutschland macht große Fortschritte bei der Willkommenskultur. In einer an diesem Freitag vorgelegten Studie der Bertelsmann-Stiftung sagten in diesem Januar 59 Prozent der Befragten, dass Zuwanderer hierzulande freundlich aufgenommen werden. Im November 2012 waren nur 49 Prozent dieser Meinung. Die Forscher messen also einen erheblichen Anstieg der Akzeptanz genau zu dem Zeitpunkt des größten Anstiegs der Zuwanderung. "Uns hat schon überrascht, wie deutlich die Veränderung in dieser kurzen Zeit ausgefallen ist", sagt Ulrich Kober, Programmleiter der Bertelsmann-Stiftung. Migranten und Einheimische sind sich übrigens einig: Auch 59 Prozent der Zugewanderten finden, dass sie willkommen sind.
Die Bertelsmann-Studie belegt auch den Eindruck, der durch die Pegida-Demonstrationen entstanden ist: Was die Einstellung zu Einwanderern angeht, ist Deutschland ein geteiltes Land: Im Westen glauben 63 Prozent, dass Fremde willkommen sind, im Osten nur 44 Prozent. Während im Westen die Zustimmung zu Einwanderern zwischen 2012 und 2015 um 14 Prozent gestiegen ist, schrumpfte sie im Osten um sieben Prozent. Schwierigkeiten in der Schule, Belastungen der Sozialsysteme oder mögliche Konflikte zwischen Einheimischen und Zugewanderten – sämtliche Probleme werden im Osten als gravierender bewertet. Die Westler betonen hingegen die Vorteile: Mehreinnahmen in der Rentenversicherung, Linderung des Fachkräftemangels, eine Bereicherung des kulturellen Lebens.
Ostdeutsche schaden vor allem sich selbst
Mit ihrer ablehnenden Haltung schaden viele Ostdeutsche vor allem sich selbst. Nach der Wende sind viele in den Westen übergesiedelt, meist die Leistungsfähigen, gut Ausgebildeten. Zudem haben nicht mal vier Prozent der Bevölkerung in den östlichen Bundesländern einen Einwanderungshintergrund. Darum werden die Ost-Länder in der Zukunft viel stärker als die im Westen unter der Alterung der Gesellschaft und dem Fachkräftemangel zu leiden haben. Der Osten ist auf Zuwanderung angewiesen, weit mehr noch als der Westen der Republik. Doch die wachsende Ablehnung macht den ohnehin schon abgehängten Teil der Republik noch unattraktiver. Die Haltung der Bevölkerung wird zu einem entscheidenden Standortnachteil.
Die Entwicklung in Deutschland, insbesondere der Unterschied zwischen Ost und West, verläuft exakt nach Lehrbuch. Sie ist ein eindrucksvoller Beweis für die "Kontakthypothese": Demnach führt häufiger Kontakt zu Angehörigen einer fremden Gruppe zum Abbau von Feindseligkeiten und Vorurteilen. Genau das belegt die Bertelsmann-Studie für die Gesellschaft in Westdeutschland. Und sie zeigt auch: Die beste Medizin gegen die in Ostdeutschland so weit verbreiteten Vorbehalte gegen Zuwanderer sind: Zuwanderer.