Herr Cherry, woran glauben die Unitarier?
Wir haben keine zwingenden theologischen Grundsätze. Unserer Ansicht nach sind theologische Überlegungen weniger wichtig als die Frage, wie man seine Überzeugung positiv in die Lebenswirklichkeit der Gemeinschaft umsetzen kann. Jenseits von Dogmen sind wir gemeindeorientiert. Auch Jesus waren Glaubensbekenntnisse übrigens einerlei. Ihm war wichtig, dass Menschen ihr Leben gut führen konnten. Das ist vielleicht eine Position jenseits des Mainstreams, aber diese Position ist kaum neu.
Ihre Kirche gilt als "liberal" bei allen zentralen Fragen, die die amerikanische Gesellschaft umtreiben. Bei der Abtreibung, bei der Homo-Ehe, bei der Frage der Kontrolle von Schusswaffen, beim Irak-Krieg. Sind Sie der verlängerte Arm der demokratischen Partei?
Nein, keineswegs. Bei all diesen Fragen gibt es bei uns auch Gemeindemitglieder, die Positionen der Republikaner vertreten. Wir sind liberal, was Glaubensfragen betrifft. Das bedeutet nicht, dass unsere Mitglieder auch politisch zwingend immer liberale Positionen einnehmen. Zwar würde ich sagen, dass die Mehrheit unserer Mitglieder liberal denkt, aber mir würde es nie in den Sinn kommen, meiner Gemeinde zu sagen, was sie wählen soll.
Die Unitarier
Die Gemeinschaft der Unitarier, die "Unitarian Universalist Association of Congregations in North America", hat in den USA knapp 160.000 Mitglieder. Die Gemeinschaft gilt als liberal in dem Sinn, dass sie keinem ihrer Mitglieder vorschreibt, was sie zu glauben haben. Auch politisch gelten die Unitarier bei vielen Fragen als liberal, auch wenn es hier keine zentrale Festlegung gibt. Eric Cherry, 35, ist Pfarrer der unitarischen Gemeinde in North Easton, einem Vorort von Boston in Massachusetts.
Wie würden Sie die spirituelle Entwicklung in Amerika nach den Anschlägen des 11. September 2001 beschreiben?
Der 11. September 2001 ist ein Wendepunkt gewesen. Nach dieser Tragödie hatte unsere politischen und geistlichen Führer, unsere Lehrer, die Möglichkeit, den Menschen ein Leben der Angst zu bieten, in denen sie immer sorgsam auf den Stand der Terrorwarnung würden acht geben müssen, oder, als Alternative, darüber nachzudenken, wie ein rationale und spirituell gesunde Antwort auf die Angriffe aussehen könnte. Sie haben sich für ein Leben der Angst entschieden - nicht für ein Leben der Hoffnung.
Was haben Sie Ihrer Gemeinde am 11. September 2001 gesagt?
Wir sind am Abend zusammen gekommen und haben getrauert. Ich habe der Gemeinde gesagt, dass wir an einer Vision der Hoffnung festhalten müssen, nicht an einer Vision der Angst.
Wie haben sich die Unitarier nach den Anschlägen verhalten?
Auch bei uns gibt es viele, die Angst haben. Auch Unitarier sind nicht immun gegen die psychologisch ausgefeilte Kampagne Washingtons, die darauf abzielt, ein Klima der Angst zu schaffen.
Aber die Angst ist doch angesichts der realen Bedrohung für das eigene Leben verständlich. Die Anschläge von London, von Madrid, aber auch Bombay sind keine Erfindung. Und ebenso real ist der Versuch von Terroristen, wieder Ziele in den USA anzugreifen.
Es ist einfach so, dass wir die Angst vor vergleichbaren Bedrohungen nicht im selben Maße befeuern wie die Angst vor einem terroristischen Angriff. Die Wahrscheinlichkeit, dass man bei einem Autounfall stirbt, etwa ist ungleich größer als die Wahrscheinlichkeit, bei einem Terroranschlag umzukommen - selbst wenn ich in New York leben würde und nicht in Easton in Massachusetts. Die Angst vor einem Autounfall veranlasst uns jedoch kaum dazu, unser Leben drastisch zu verändern - die Angst vor einem Terroranschlag jedoch tut genau dies, sie prägt unser Leben auf eine sehr zerstörerische Art und Weise.
Was meinen Sie damit?
Es geht darum, ob wir es unseren Ängsten und unseren Dämonen gestatten, zu bestimmen, wie wir unser Leben führen, oder ob wir das unseren, ich nenne es mal: unseren Engeln zugestehen. Treffen wir unsere Entscheidungen auf der Grundlage von Angst oder auf der Grundlage von Hoffnung. Erlauben wir unseren Nachbarn, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, mit uns zu leben, oder begegnen wir ihnen mit Misstrauen? Darum geht es. Diese Phänomene sind in Easton so wirklich wie in Boston und New York.
Wie antworten Sie auf Argumente der christlichen Rechten, die Regierung Bush führe einen Krieg zur Verteidigung christlicher Werte?
Wer das Schwert in die Hand nimmt, muss das Kreuz niederlegen. Beides geht nicht. Das hat vor kurzem auch ein Evangelisten-Pfarrer in der "New York Times" gesagt. Er weiß, dass viele seine Kollegen genau das vergessen haben. Den Jesus, den ich kenne, sprach von Frieden und von Liebe, nicht vom Krieg.
Die christliche Rechte in den USA gab es schon vor dem 11. September 2001. Was für einen Effekt haben die Anschläge auf den christlichen Fundamentalismus in den USA gehabt?
Eine mögliche Antwort ist zutiefst theologisch. Ein Teil der Evangelisten hat ein apokalyptisches Verständnis der Zukunft der Welt. Sie glauben, dass die Zukunft der Welt bald in einen katastrophalen Krieg münden wird, dass es genau das ist, was Gott will. Aus ihrer Sicht gibt es keinen Grund, diese Entwicklung aufzuhalten.
Vom islamistischen Fundamentalismus ist man da nicht weit weg ...
Nein, die Ähnlichkeiten sind überraschend.
Wie kann Amerika dem Klima der Angst begegnen?
Wir brauchen Stimmen von politischen und geistlichen Führern, die uns die Hoffnung in Erinnerung rufen, die uns zum Nachdenken anregen. Wir müssen endlich auf den Rückgriff auf einfache Antworten verzichten, die der Regierung das Lügen so leicht machen. Wir müssen endlich wieder verstehen, was es bedeutet, ohne Angst zu leben.