Genau fünf Stunden bevor Michael Schumacher beim Großen Preis von Shanghai im September 2004 nur Platz zwölf erreichte, Barrichello jubelte und Ecclestone mal wieder ein "asiatisches Jahrhundert" vorhersagte, steuerte mein Taxi zur Hutai-Straße, weil sich das Manöver so günstig als Abkürzung zum Express-Highway anbot. Meine Frau und mein Sohn saßen auf dem Rücksitz, nachkommenden Fahrzeugen war der Taxifahrer kein abschreckendes Beispiel, sondern er war der Mutige, der die Schneise schlug, in die nun alle drängten.
Ich denke bei Shanghai
und vier Rädern nicht an Formel 1, sondern an 17 Millionen Menschen, die sich erst an Autos im Straßenverkehr gewöhnen müssen. Noch vor fünfzehn Jahren sind ausschließlich Limousinen der Funktionäre und vielleicht ein paar Schweinetransporter über die Straßen Shanghais gecruist. In dem Welt-Bestseller "Tod einer Roten Heldin" von Qiu Xiaolong, der Anfang der 90er Jahre spielt, ist Oberinspektor Chens einzige Spur zur Klärung eines Mordfalls die weiße Limousine eines Parteibonzen-Sprosses. Heute wäre sein Anfangsverdacht hoffnungslos im Verkehr allein der weißen Limousinen erstickt, ganz zu schweigen vom Gedrängel der 850.000 anderen Autos. Vorbei die Zeiten, als Shanghai eine Stadt der Fahrradfahrer war.
Fahrräder gibt es natürlich immer noch. Und sie fahren immer noch ohne Licht. Das erklärt einen Teil der 104.000 Verkehrstoten im vergangenen Jahr in ganz China. In keinem anderen Land leben Verkehrsteilnehmer gefährlicher. Die ganze Nation erlebt gleichzeitig den Kick des Achtzehnjährigen, der zum ersten Mal hinters Steuer darf und vor lauter Gasgeben vergisst, wo sich die Bremse befindet. Da muss Aufklärung her.
Der Staat hat reagiert. Die "New York Times" berichtet von einer Führerscheinprüfung für Motorradfahrer, in der folgende Fragen mit "richtig" oder "falsch" beantwortet werden mussten:
1:
Sie kommen an einer Unfallstelle vorbei. Ein Motorradfahrer liegt am Boden. Sollen Sie den Verletzten heftig schütteln, um ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen?
2:
Ein Teil seiner inneren Organe liegen neben ihm auf dem Boden. Müssen sie diese zurück in den Körper stopfen?
Geschmacklos, zugegeben, aber wahr. Selbst der chinesische Präsident hat schon auf Seite eins der "China Daily" die Bevölkerung aufgefordert, die Verkehrsregeln endlich zu beachten. Das würde die Effizienz im Straßenverkehr erhöhen.
Als Europäer muss man
seine Überlebensstrategie komplett ändern. In Deutschland lebt ein Fußgänger gefährlich, der beim Überqueren einer zweispurigen Straße weitergeht, obwohl sich ein Auto nähert. Er verletzt eine Regel und muss dafür notfalls mit dem Tod bestraft werden. In Shanghai ist das umgekehrt. Verkehrsteilnehmer stoßen sofort in sich öffnende Freiräume vor. Regeln gelten noch weniger als Vorschläge. Der deutsche Fußgänger würde also genau an der Stelle stehen bleiben, auf die das Auto ausweicht, um den Fußgänger nicht dort umzufahren, wo er aller Vorausahnung nach gehen würde.
Ganz wichtig also: Nicht einfach auf das grüne Männchen an der Ampel achten, sondern improvisieren. Das macht mich nervös. Ganz besonders, wenn ich mit Frau und Kind unterwegs bin. Für Kinderwagen gilt nämlich das gleiche Gesetz wie für Fußgänger: Sofort in Freiräume vorstoßen, egal was kommt.