Geostrategische Politik Warum der Iran die Machtergreifung der Taliban feiert

Irans Präsident Ebrahim Raisi (links) und ein Konvoi der Taliban in Kandahar
Irans Präsident Ebrahim Raisi nannte die Machtübernahme der Taliban unlängst als Chance, "Leben, Sicherheit und anhaltenden Frieden" nach Afghanistan zurückzubringen
© Iranian Presidency (l.) / Javed Tanveer (r.) / AFP
Obwohl sie für Massaker an Schiiten bekannt sind, wertete Irans Präsident Raisi die Machtübernahme der Taliban jüngst als Chance, "Leben, Sicherheit und Frieden" nach Afghanistan zurückzubringen. Wie passt das zusammen?

Stimmt es, dass ausgerechnet der schiitische Iran die Taliban als Sieger feiert?

Ja. Obwohl der Hass auf Schiiten unter den Taliban verbreitet ist – das Regime in Teheran begrüßt freudig die neuen Hardliner an der Spitze Afghanistans. Ein Grund: Der Iran kann einen weiteren Unruheherd im Osten nicht gebrauchen – Konfession hin oder her. 

Konfessionelle Gemeinsamkeiten waren in der Vergangenheit ohnehin immer nur dann wichtig, wenn sie in das geostrategische Konzept passten. Die mehrheitlich schiitische Volksgruppe der Hazara etwa, denen nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan Gewalt und Verfolgung drohen, entdeckte das iranische Regime für sich, als es Söldner für den Krieg in Syrien brauchte. Man fand die jungen Männer, die genau genommen teilweise noch Kinder waren, im iranischen Grenzland zu Afghanistan oder in den Straßen Teherans, wohin sie aus Armut, wegen Familienfehden oder aus anderen Gründen geflohen waren. Die Elitemiliz der Revolutionsgarden bildete sie aus, steckte sie in die extra geschaffene Einheit der "Fatimijun-Brigade" und verschickte sie nach Syrien. Tausende kamen dabei um. Und starben als "Märtyrer" im "Verteidigungskampf" der schiitischen Brüder und Schwestern des Assad-Clans in Damaskus. 

Stimmt es eigentlich, dass ...

Das Quality Board von Gruner + Jahr und das stern-Verifizierungsteam gehen mit regelmäßigen Faktenchecks gegen Falschmeldungen vor und ordnen Behauptungen unterschiedlicher Themengebiete faktenbasiert ein.

Ist auch Ihnen eine Nachricht oder Information – egal ob im Internet, Gespräch oder ganz woanders – begegnet, deren Wahrheitsgehalt Sie überprüfen lassen möchten? Dann schreiben Sie uns an faktencheck@stern.de.

Bilaterale Gespräche zwischen Iran und den Taliban

In einem ähnlichen propagandistischen Feind-Bild Teherans, in dem schon der IS oder sunnitische Milizen im Irak zu finden sind, könnte man auch die Taliban vermuten. Sind sie nicht auch für Massaker an ihren schiitischen Nachbarn bekannt? Nun, ja. Aber der "Große Satan" bleiben in den iranischen Staatsmedien immer noch die Vereinigten Staaten. Und einen weiteren Unruheherd im Osten kann das Land nicht gebrauchen, die Flüchtlingsströme reißen nicht ab, und mit ihnen wachsen die Probleme mit der grassierenden Covid-Pandemie. Da braucht es pragmatische Lösungen. Und so wundert es nicht, dass der neue Präsident Raisi die Machtergreifung im Nachbarland als "eine Gelegenheit" preist, "Leben, Sicherheit und anhaltenden Frieden" nach Afghanistan zurückzubringen.

Bereits Anfang des Jahres lud der damalige Außenminister Zarif den Taliban-Chefunterhändler Mullah Abd al-Ghani Baradar nach Teheran zu bilateralen Gesprächen. Hinter den Türen der Verhandlungszimmer, so vermuten Expert:innen, fanden dann die Deals statt, die Teheran Ruhe an seiner Ostflanke sichern sollen. Dabei dürfte auch die "Fatimijun-Miliz" der Hazara eine Rolle gespielt haben, womöglich als Druckmittel. Denn die Rückkehr dieser kampferprobten Truppe nach Afghanistan könnte einem Bürgerkrieg Vorschub leisten. Und womöglich Saudi-Arabien auf den Plan rufen. 

Und so bleiben die jungen Kämpfer in Syrien, bleiben ein Spielball in den Händen der Regionalmacht Iran, während Amnesty International weiter Menschenrechtsverletzungen, Folter und Mord in den Hazaragebieten dokumentiert. Denn Deals in Doha oder Teheran sind eine Sache – sie an der Basis durchzusetzen eine andere.

Michael Lehmann-Morgenthal