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Giulio Andreotti Der Ex-Premier und der Politmord

Kaum einer kann sich vorstellen, dass der siebenmalige Regierungschef der Drahtzieher eines Politmordes gewesen sein soll. Die Verurteilung Giulio Andreottis schlug dem entsprechend wie eine Bombe ein.

Die Angehörigen des am 20. März 1979 ermordeten Journalisten Mino Pecorelli sind die einzigen, die sich offen über die Verurteilung des ehemaligen italienischen Regierungschefs Giulio Andreotti zu 24 Jahren Haft freuen. "Erstmals habe ich das Gefühl, dass mein Bruder nicht vergebens gestorben ist", sagte Pecorellis Schwester Rosina unter Tränen, nachdem sie am Sonntagabend von dem Urteil erfahren hatte. Doch das restliche Italien hat sich alles andere als gefreut und hat energisch für den 83-jährigen Andreotti Partei ergriffen.

Niemand kann oder will sich vorstellen, dass der international bekannte, siebenmalige Regierungschef der Drahtzieher eines Politmordes gewesen sein soll. Dass er, wie die Berufungsrichter im mittelitalienischen Perugia befanden, der sizilianischen Mafia den Auftrag erteilt haben soll, Pecorelli aus dem Weg zu räumen, weil dieser ihn in seiner Zeitschrift "OP" ("Osservatore Politico" - "Politischer Beobachter") allzu heftig angriff. Kurz vor seiner Ermordung wollte er laut den Staatsanwälten geheime Schriften des 1978 ermordeten christdemokratischen Spitzenpolitikers Aldo Moro veröffentlichen, die Andreottis Ansehen nachhaltig beschädigt hätten.

"Die Justiz ist verrückt geworden"

Von Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi abwärts äußerten sich alle führenden Politiker geschockt und entsetzt über die Verurteilung Andreottis. Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der selbst einen Korruptionsprozess am Hals hat, nützte die Gelegenheit, um die Richterschaft in Grund und Boden zu beschimpfen. "Berlusconi: Die Justiz ist verrückt geworden", konnten Millionen Italiener am Montag in der Zeitung lesen. Die führenden Medien schlossen sich dem Chor der Andreotti-Verteidiger an und warfen Andreottis Richtern vor, das internationale Ansehen des Landes zu beschädigen.

Selbst der Vatikan reagierte fassungslos. "Mir kommt der Vergleich mit Jesus Christus in den Sinn", sagte Kardinal Fiorenzo Angelini, ein enger Freund des Verurteilten. Andreotti ging im Vatikan seit seiner Jugend ein und aus. Er hat seit Pius XII. (1939-1958) alle Päpste persönlich gekannt. Er gilt als Musterkatholik, gibt sogar die religiöse Monatszeitschrift "30 Giorni" ("30 Tage") heraus. Wegen seiner großen Verdienste für das Land gehört er als "Senator auf Lebenszeit" bis zu seinem Tod dem Parlament an.

Dieser Mann, der als politischer Ziehsohn des legendären Nachkriegs-Premiers Alcide de Gasperi 40 Jahre lang Italiens Politik prägte, hat nach Ansicht der Berufungsrichter in Perugia einen Mord auf dem Gewissen. Das Urteil schlug dem entsprechend wie eine Bombe ein. Es wurde als Schuldspruch gegen eine politische Ära gewertet. "Diese Richter wollen Italiens Geschichte neu schreiben", empörte sich Berlusconi.

Just am Sonntagabend, als die meisten Italiener vor dem Fernseher saßen, um sich die Tore der Fußball-Liga anzusehen, erging der Richterspruch, der das ganze Land buchstäblich auf dem falschen Bein erwischte. Neben Andreotti wurde der in den USA bereits einsitzende Mafia-Boss Gaetano Badalamenti zu 24 Jahren verurteilt. Ansonsten wurde niemand verurteilt. Wer Pecorelli mit vier Schüssen in den Kopf ermordet haben soll, bleibt damit im Dunkeln.

"Gutes Omen für ein langes Leben"

Andreotti selbst reagierte wie immer gelassen. "Dass mir die Richter 24 Jahre gegeben haben, kann ich als gutes Omen für ein langes Leben werten", sagte der als beißender Zyniker bekannte alte Mann der italienischen Politik am Montag. "Mein Blutdruck war heute morgen seit längerem wieder normal", fügte er hinzu.

Die Vorwürfe, mit der Mafia zusammengearbeitet zu haben, hat Andreotti immer als reine Erfindung der Justiz abgetan. Doch die Staatsanwälte ließen nicht locker, nachdem der bekannteste Mafia- Überläufer Tommaso Buscetta Anfang der 90er Jahre Andreotti als politischen Ansprechpartner der Mafia bezeichnet hatte. Er soll bei einem Geheimtreffen die Bosse gar mit dem traditionellen Wangenkuss begrüßt haben.

Symbol für Aufstieg und Fall Italiens

Giulio Andreotti (83) gilt als Symbol für Aufstieg und Fall der ersten italienischen Republik. Zwischen 1972 und 1992 war der Christdemokrat sieben Mal Ministerpräsident. Außerdem war er 33 Mal Minister. Fast 50 Jahre lang prägte er die Politik im Nachkriegs-Italien, bis er Anfang der 90er Jahre in den Strudel der Justiz geriet. Gegen ihn ist derzeit ein Berufungsverfahren wegen angeblicher Zusammenarbeit mit der Mafia anhängig. Die Staatsanwaltschaft in Palermo forderte dabei im vergangenen März zehn Jahre Haft. Ein Termin für die Urteilsverkündung steht noch nicht fest. Andreotti war in erster Instanz 1999 freigesprochen worden.

Andreotti, der am 14. Januar 1919 in Rom als Sohn eines Lehrers geboren wurde, wuchs in einfachsten Verhältnissen auf. In einem Jurastudium spezialisierte er sich auf Kirchenrecht. Während des Krieges engagierte er sich in der katholischen Kirche. Im Vatikan lernte er den Gründungsvater der konservativ-ausgerichteten Democrazia Cristiana (DC), Alcide De Gaspari, kennen, der sein Mentor wurde.

1945 gehörte Andreotti der verfassungsgebenden Versammlung an, 1947 folgte die Wahl in die Abgeordnetenkammer, im gleichen Jahr rückte er zum Unterstaatssekretär beim Ministerpräsidenten auf. Früh profilierte sich der wegen seiner pragmatischen und taktischen Wendigkeit Gerühmte als überzeugter Antimarxist. 1972 wurde er erstmals zum Ministerpräsidenten gewählt. Als seine Hauptaufgabe sah der "Fuchs" es an, eine Regierungsbeteiligung der immer stärker werdenden Kommunisten zu verhindern. Seine schwerste Wochen durchlebte Regierungschef Andreotti Anfang 1978 während der Entführung und Ermordung des Parteifreundes Aldo Moro.

Inbegriff des machiavellistischen Politikers

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft "Mani pulite" (Saubere Hände) gegen die "Schmiergeldrepublik" und die Auflösung der Democrazia Cristiana brachten auch den Fall Andreottis mit sich. Seitdem galt er als Inbegriff des machthungrigen und machiavellistischen Politikers. In dem Verfahren in Palermo wurde ihm vorgehalten, er sei der "politische Pate" der Mafia gewesen. Er soll sogar den "Boss der Bosse" mit einem Wangenkuss begrüßt haben. Andreotti hatte die Anschuldigungen stets kategorisch bestritten.

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