Jersey Auf Spurensuche im Horror-Heim

65 Milchzähne, 150 Knochenstückchen, über 3000 verdächtige Fundstücke - nach sechs Monaten sind die Ausgrabungen im ehemaligen Kinderheim auf Jersey abgeschlossen, der Ermittlungsleiter geht in Pension. Bleibt die Frage, was wirklich hinter den Mauern des viktorianischen Gemäuers geschah.

Haut de la Garenne erhebt sich inmitten einer grünen Wiese auf einem Berg am Meer. Im Frühling blühen hier gelbe Narzissen, auf den Feldern wachsen die berühmten Jersey-Kartoffeln. Die Straße vorbei an dem ehemaligen Heim führt direkt hinunter zum Strand, wie fast alle Straßen auf der Insel Jersey. Idyllisch könnte es hier sein, wenn nicht monatelang vor dem Eingang zu dem Gebäude mit den roten Ziegelsteinen die Polizeiwagen gestanden hätten und auf der Wiese die Zelte, in denen Archäologen und Forensiker mühsam 150 Tonnen Dreck durchsiebten, heraufgeholt aus den Kellern unter dem Haus.

Diese Ausgrabungen sind jetzt abgeschlossen. Das angebliche Schädelstück, das im Februar die ersten Schreckensmeldungen aus Jersey provozierte, ist inzwischen als nicht-menschlicher Überrest identifiziert worden. Weitere forensische Untersuchungen haben ergeben, dass die winzigen Knochenstückchen und die Milchzähne, die sich zwischen dem Bauschutt aus den vier Kellern fanden, wohl niemals genau zeitlich zugeordnet werden können.

Die Zähne stammen sicher von Kindern

Jemand hat hier versucht, seine Spuren zu verwischen, und er war gründlich. Die menschlichen Überreste wurden in einem großen Ofen in dem Gebäude erst verbrannt und dann wahrscheinlich in den 70er Jahren als Bauschutt in den Kellern vergraben. Der ermittelnde Kommissar Lenny Harper hat in Interviews in den vergangenen Tagen immer wieder zugestehen müssen, dass eine Anklage wegen Mordes möglicherweise nie eröffnet werden kann. Zu wenig weiß man über diese menschlichen Überreste, niemand kann sagen, ob es Jungen oder Mädchen waren, wie alt sie genau sind, wie lange sie dort lagen. Was man weiß, ist, dass die Zähne auf jeden Fall von Kindern stammen, genauer: von deren Leichen. Die Zahnhälse zeigen, dass die Überreste nach dem Tod aus dem Kiefer gefallen sein müssen. Zu bis zu fünf verschiedenen Kindern sollen die 65 Milchzähne gehören, schätzen die Forensiker bisher. Aber selbst darüber besteht keine wirkliche Klarheit.

Woran Lenny Harper aber keinerlei Zweifel hat, das sind die furchtbaren Dinge, die hier in diesem ehemaligen Heim geschehen sind, jahrelang, wahrscheinlich jahrzehntelang. Und diese Dinge lassen sich nicht erklären durch Disziplinar-Maßnahmen vor und nach dem zweiten Weltkrieg, sagt Harper: "Sodomie und Vergewaltigung waren nach meinem Wissen niemals anerkannte Züchtigungsstrafen." Die Polizei hat gefunden, was über hundert Zeugen aussagten über dunkle Räume und Folterwerkzeuge, mit denen sie gequält wurden. Die Ermittler fanden vier Keller, zugemauert und versteckt durch Umbauten in dem Gebäude und so niedrig, dass sie die Decken entfernen mussten, um darin arbeiten zu können.

Jersey gehört nicht wirklich zu Großbritannien

Die Arbeit von Lenny Harpers Team führte bisher zur Verhaftung von fünf Menschen, drei wurden wegen sexuellen Handlungen an Kindern angeklagt und sitzen im Gefängnis. Dass die zwei weiteren Verdächtigen nicht angeklagt wurden, sondern trotz der vorliegenden Beweise wieder nach Hause gehen konnten, führt direkt zum Kern der Probleme dieses Falls. Und zum Problem der Insel Jersey, die als Oase der Besserverdienenden gilt, als Herkunftsort der besten Eiscreme im ganzen britischen Inselreich. Kritiker sagen, dass diese zwei Verdächtigen wieder entlassen wurden, sei eine politische Entscheidung gewesen. Auf Jersey ist der amtierende Bailiff, der Inselvorstand Sir Philip Bailhache, auch Leiter der Justiz. Und sowohl Bailhache wie auch andere wichtige Politiker haben sich in den vergangenen Monaten vor allem damit hervorgetan, ihre mahnende Stimme nicht für die Opfer, sondern gegen die angeblich rufschädigende Berichterstattung über Jersey zu erheben.

Wer Jersey verstehen will, muss wissen, dass Jersey nicht wirklich zu Großbritannien gehört. Und die Insel ist sehr stolz auf ihre 800 Jahre dauernde Unabhängigkeit. Zwar bestimmt die Königin den anglikanischen Kirchenvorstand und bestätigt die Parlaments-Wahl des Bailiff, des Inselvorsitzenden. Doch das Parlament in Jersey wird von den Inselbewohnern gewählt. Es gibt keine Parteien, nur gewählte Vertreter der einzelnen Bezirke und zwölf Senatoren, ebenfalls gewählt von allen Bewohnern. Dieses Kein-Parteien-System sorgt dafür, dass der Einfluss im Parlament nicht von politischen Strömungen ausgeht, sondern von privaten Beziehungen.

Die Insel werde von einer Oligarchie regiert

Stuart Syvret ist einer dieser zwölf Senatoren. Er sitzt im Inselparlament seit er 25 Jahre alt ist, er ist einer der beliebtesten Politiker in Jersey, und er ist ein Außenseiter. Er kommt aus der Arbeiterklasse, aus den Armensiedlungen der Insel, die sich hinter den freundlichen Fassaden der Hauptstadt St. Helier verstecken. Und von diesen Menschen, die ansonsten auf Jersey nicht zu viel zu melden haben, wird Syvret gewählt. In den Gegenden, in denen diese Menschen wohnen, sieht es aus wie in den Sozialghettos der britischen Hauptstadt Londons. Nur die Stimmung ist noch ein bisschen verzweifelter hinter den Fenstern, die mit Pappe verklebt sind. Denn nur wenige hundert Meter weiter stehen Häuser mit wunderbarer Aussicht hinaus auf Buchten und Meer, liegen die Yachten der Millionäre, die aus Steuer-Gründen Jersey ihre Heimat nennen. Die Steuern auf Boots-Benzin sind in Jersey niedriger als auf Lebensmittel.

Stuart Syvret sagt, die Insel werde von einer Oligarchie regiert. Und das ist elementar wichtig in dieser Geschichte um gequälte Kinder, sagt er. Denn nur wer versteht, wie Politik in Jersey gemacht wird, kann verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Kinder jahrzehntelang missbraucht wurden, bis weit in die 80er Jahre hinein. Dass alle Hinweise ignoriert wurden, dass es Probleme gab in Haut de la Garenne und auch in den Institutionen, die diese Kinder aufnahm nach der Schließung des Heimes 1986.

Die Anzeigen führten zu einer internen Untersuchung

Da gibt es zum Beispiel die Geschichte des Ehepaars Maguire, Jane und Alan. Jane Maguire arbeitete 1979 sogar kurzzeitig in Haut de la Garenne. Als das Heim schloss, wurden viele Kinder in kleinere Familieneinheiten umgesiedelt. Die Maguires wurden die Familienoberhäupter eines solchen Mini-Heimes - und misshandelten ihre Schützlinge auf fürchterlichste Weise. Sie wuschen die Münder der Kinder mit Seife, ließen sie stundenlang im Garten stocksteif herumstehen, schlugen sie mit Holzlöffeln und Gürteln. Es gibt auch Vorwürfe von sexuellem Missbrauch gegen Alan Maguire. Dies alles wurde nicht nur von mehreren der inzwischen erwachsenen Zöglinge der Maguires in Zeugenaussagen zu Protokoll gegeben, sondern auch von Nachbarn bestätigt, die sich an die verängstigten Kinder und ihre Schreie erinnerten.

Die Anzeigen der Heimkinder der Maguires führten zu einer internen Untersuchung. In einem Bericht wurde empfohlen, den Maguires die Kinder zu entziehen und jegliche zukünftige Tätigkeit im Sozialwesen zu verbieten. Tatsächlich wurde das Familien-Heim der Maguires geschlossen. Jane Maguire erhielt jedoch sofort einen neuen Job in der Sozialbehörde, zu ihrer Pensionierung erhielten sie und ihr Ehemann einen Brief der Sozialbehördenleiterin, voller Lobpreisungen. Den Opfern wurde gesagt, ihre Zeugenaussagen seien nicht glaubwürdig. Einigen wurde sogar empfohlen, sie sollten sich bei den Maguires für die Unannehmlichkeiten, die sie ihnen bereitet hatten, entschuldigen.

Syvret hatte in ein Wespen-Nest gestochen

Dies ist nur eins der Beispiele, wie Jersey mit Problemen in seiner Sozialbehörde umgeht. In den vergangenen zehn Jahren gab es den Fall des Lehrers einer weiterführenden Schule, der seine Schüler auf Segelboot-Ausflügen sexuell missbrauchte - und über dessen Fehlverhalten von Politikern und Kollegen über Monate Stillschweigen vereinbart wurde. Sogar Zeugenaussagen wurden verfälscht. Was nicht sein durfte, sollte auch nicht sein. Es war diese Häufung von Fällen, von Vertuschungen und Mauscheleien, die den Kommissar Lenny Harper und sein Team veranlasste fast ein Jahr im Geheimen zu ermitteln - zu viele Hinweise gab es, dass eine Reihe von Sozialarbeitern, Jugendpflegern und Seekadetten, die des Missbrauchs an Kindern verdächtigt wurden, Verbindungen zurück in die Zeit des Heims Haut de la Garenne hatten.

Stuart Syvret war Mitte 2006, am Anfang dieser Ermittlungen, als Minister zuständig für die Sozialbehörde. Sieben Jahre lang hatte er versucht, die Betreuung von Kindern in Jersey zu verbessern. Als er das erste Mal unter anderem auf den Fall Maguire aufmerksam gemacht wurde, begann er nachzufragen. Er merkte schnell, dass er in ein Wespen-Nest gestochen hatte. Auf der einen Seite kamen Mitarbeiter zu ihm, die ihm von Untersuchungsberichten erzählten, die nie das Licht der Öffentlichkeit gesehen hatten. Auch meldeten sich immer mehr Opfer, die von den Geschehnissen in dem Heim erzählten, voller Angst, dass sie dadurch, auch Jahre danach, Schwierigkeiten bekommen könnten in Jersey.

Kindern weinten und schrien

Sie erzählten ihm von den Kellern in dem ehemaligen Kinderheim Haut de la Garenne, von einer Betonbadewanne, in der sie gequält, missbraucht und stundenlang im Dunkeln eingesperrt wurden. Sie erzählten von Kindern, die nachts aus ihren Betten geholt wurden, weinend, schreiend und erst nach Stunden wieder zurückkamen. Und auf der anderen Seite merkte Syvret, wie der politische Druck auf ihn immer weiter wuchs. Er wollte sich den Mund nicht verbieten lassen, wurde in seinen internen Memos an Mitarbeiter immer deutlicher und wohl auch ausfallend. Seine politischen Gegner nahmen dies zum Anlass, ihn seines Amtes zu entheben. Um ihn zum Schweigen zu bringen, sagt Syvret. Wegen seiner Unfähigkeit, sagen die politisch Verantwortlichen.

Doch während sich die Politiker stritten, ermittelte die Polizei weiter im Geheimen. Lenny Harper erfuhr von älteren Polizei-Kollegen, dass sie damals, in den 60er und 70er Jahren, immer wieder Kinder zurückbringen mussten in das Heim. Sehr viele Kinder versuchten damals, aus dem Haus zu fliehen. Kinder wie Cyril Turner, heute 59, dem das Heim und die Betreuer soviel Angst einjagten, dass er aus dem Fenster im zweiten Stock sprang, um davon zu laufen. Er brach sich damals den Knöchel. 1963 war er wegen Schulschwänzens aus seiner Familie genommen und ins Heim geschickt worden.

Das ganze Haus umgab eine Atmosphäre der Gewalt

Noch heute bricht seine Stimme, seine Hände zittern und seine Augen tränen, wenn er sich an die dunklen Räume erinnert, in die er zur Strafe gebracht wurde, wenn er ins Bett gemacht hatte in der Nacht. Er sei damals nicht sexuell missbraucht wurden, sagt er. Aber er wurde verprügelt, von Angestellten und anderen Kindern. Das ganze Haus umgab eine Atmosphäre der Gewalt. Kinder warnten ihn vor dem Horror, der als Strafe im Keller wartete. Es wurde geflüstert, dass einige Kinder verschwunden seien da unten und nie wieder aufgetaucht seien. "Wir waren doch Kinder", sagt Cyril Turner. "Und auch, wenn wir keine Engel waren, irgendjemand hätte uns schützen müssen."

Die Polizei hat bis heute noch keine Kinder identifiziert, die aus Haut de la Garenne verschwunden sind, es gibt keine Namen von Vermissten. Aber wer nicht vermisst wird, kann auch nicht verschwinden. In den 60er und 70er Jahren schickten zum Beispiel britische Behörden vom Festland Kinder nach Jersey. Aus einem englischen Jugendamt ist bereits ein Fall bekannt geworden, ein Junge, der nach Jersey geschickt wurde und danach in keinen Akten mehr auftaucht. Was aus ihm geworden ist, kann heute keiner sagen - es kann ein Fehler in den Akten sein. Oder ein verlorenes Leben.

Tagelang musste Kevin nackt im Dunkeln in der Badewanne stehen

Es haben Kinder aus dem Heim ihr Leben verloren, das ist sicher. Michael O'Connell, zum Beispiel, brachte sich um, erhängte sich, als er wieder zurück sollte in das Heim. Er war damals 14 Jahre alt. Sein Bruder Kevin hat der englischen Tageszeitung "Sunday Times" erzählt, dass er und sein Bruder immer und immer wieder missbraucht wurden in den Kellern von Haut de la Garenne Anfang der 60er Jahre. Tagelang musste Kevin nackt im Dunkeln in der Betonbadewanne stehen, und dann kam ein Mann, der ihn nach der endlosen Zeit des Alleinseins beruhigte, seine Genitalien streichelte und dabei masturbierte.

Kevin O'Connell hat diese Geschichte nicht nur der "Sunday Times" erzählt. Er hat es auch 1996 weitergegeben an seinen Bewährungshelfer in Jersey. Seit er als Teenager aus dem Heim entlassen wurde, hat ihn eine Alkoholabhängigkeit immer weiter ins soziale Abseits gedrängt. Er trank, um zu vergessen und wurde immer wieder eingesperrt wegen Diebstahls und Trunkenheit in der Öffentlichkeit. Der Mann, dem er damals seine Geschichte anvertraute, sagte ihm, er solle den Mund halten. Einem wie ihm würde doch nicht geglaubt werden. Lenny Harpers Team hat inzwischen mit weit über 100 Zeugen gesprochen, die alle von ähnlichem Missbrauch erzählen, die alle die gleichen Namen erwähnen von denen, die damals die Kinder gequält haben. Die meisten haben schon vorher versucht, jemanden aufmerksam zu machen auf das Unrecht, das ihnen widerfahren ist. Sie wurden ignoriert. Bis Lenny Harper kam und sein Team von Ermittlern.

Lenny Harper geht in Pension

Doch Lenny Harper geht nun, im August, in Pension. Es scheint ein bisschen so, als sei man in Jersey froh, diesen Mann loszuwerden, der soviel Durcheinander in das Steuerparadies gebracht hat mit seinen Knochenfunden. Es gibt noch mindestens 16 weitere Verdächtige, gegen die ermittelt wird - und die noch leben. Ein Nachfolger von Lenny Harper ist bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bestimmt, obwohl seine Pensionierung schon seit Monaten feststand.

Stuart Syvret glaubt, dass nur eine unabhängige Ermittlungskommission aus Großbritannien Licht in die historischen Missbrauchs-Fälle bringen kann. Er misstraut dem System in Jersey. Der Bailiff Philip Bailhache sagt, er werde alles tun, um die Ermittlungen zu unterstützen. Es ist die letzte Chance der Opfer von Haut de la Garenne auf ein klein wenig Gerechtigkeit.