Nur langsam ergibt sich ein Bild, dass die Rolle der weit verzweigten kriminellen Organisation im ewigen Skandal der Abfälle beschreibt. An diesem Freitag wurde bekannt, dass Hamburg die jüngst wieder angelaufenen Mülltransporte nach Deutschland gestoppt hat, weil Spuren radioaktiven Materials in den sogenannten "Ecoballe", den zu großen runden Ballen zusammengeschnürten Müllpaketen gefunden worden waren. Vor wenigen Tagen hatte sich der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano eingeschaltet, der darauf hinwies, dass die Camorra Giftmüll aus dem Norden des Landes in Kampanien entsorgt habe. Eine Tatsache, die auch in älteren Parlamentsberichten festgehalten ist.
Doch wer ist die Camorra und wie ist sie in den seit 14 Jahren anhaltenden Müllnotstand in Kampanien verwickelt? Ein Blick in die Gegend um das wenige Kilometer nördlich von Neapel gelegene Städtchen Casal di Principe: Hier leben die Familien des Clans der Casalesi, deren Treiben der Autor Roberto Saviano in seinem Buch "Gomorrha" beschrieben hat. Seit drei Monaten ist hier eine Kampagne der Gewalt im Gange, die Experten mit dem kurz bevorstehenden Ende des Berufungsprozesses gegen Vertreter der Camorra-Familien Schiavone, Iovine, Bidognetti und Zagaria, erklären. Auch nachdem 21 Bosse im Jahr 2005 zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt wurden, treiben die Nachkommen mit Erpressungen, Drogenhandel und Morden ihre finsteren Geschäfte weiter. Mitte Juni soll der Berufungsprozess vor dem Schwurgericht in Santa Maria Capua Vetere zu Ende gehen und endgültig über die Strafen gegen die Bosse entschieden werden. Vergangenen Sonntag wurde dann in Casal di Principe Michele Orsi auf offener Straße ermordet. Plötzlich war der Müll wieder im Spiel.
Die Mörder warteten vor der Bar
Es war zur Mittagszeit, als der 47-jährige, vierfache Familienvater aus seiner Wohnung im Ortszentrum in die nur wenige Meter von seiner Haustür entfernte Bar ging, um seinem zwölfjährigen Sohn Luca eine Flasche Coca-Cola zu holen. Die Mörder warteten in einem Auto vor der Bar, mit fünf Pistolenschüssen in Kopf und Oberkörper richteten sie Orsi, den ehemaligen Chef der Müllentsorgungsfirma "Ecoquattro" hin. Orsis Tod ist der vorläufige Höhepunkt einer Reihe von Gewalttaten durch die Nachkommen der einsitzenden Camorra-Bosse. Vor allem der Bidognetti-Clan, der in der Nähe von Casal di Principe die illegale Müllentsorgung kontrolliert, hinterlässt in diesen Tagen seine Spuren.
Erst am Wochenende zuvor hatten Unbekannte die 25-jährige Francesca Carrino angeschossen, eine Nichte von Anna Carrino, der ehemaligen Lebensgefährtin des inhaftierten Bosses Francesco Bidognetti. Anna Carrino arbeitet mit der Justiz zusammen, vor laufender Fernsehkamera, in der Nachrichtensendung des ersten Programms, hatte sie jüngst die Familien zum Aufgeben aufgerufen. "Denk nicht an dich, du musst gestehen. Sorge dafür, dass unsere Kinder aus Casal di Principe fortkommen", flehte sie ihren ehemaligen Gefährten Francesco Bidognetti an. Was folgte, waren die Schüsse auf ihre Nichte.
Sterben im Kugelhagel
Anfang Mai hatten Killer Umberto Bidognetti, den Vater eines "Pentito", eines geständigen Kollaborateurs erschossen. Zwei Wochen später starb der Unternehmer Domenico Noviello im Kugelhagel, auch er ein Pentito, der 2001 Erpresser aus den Reihen der Camorra angezeigt hatte. Und jetzt Michele Orsi. "Die von den Casalesi ausgeführten Morde der letzten Zeit sind alle furchtbar. Doch der Tod Michele Orsis steht im Hinblick auf die Ermittlungen noch auf einer anderen Stufe", sagte Franco Roberti, einer der Hauptermittler gegen die Camorra in Casal di Principe.
Auch Orsi hatte mit der Justiz zusammen gearbeitet. Weil seine Aussagen jedoch von den Staatsanwälten nicht als die eines offiziellen Pentito gewertet wurden, hatte er keine Leibwächter. Vor drei Jahren war Orsi das erste Mal verhaftet worden, weil er in die illegale Müllentsorgung verwickelt gewesen sein soll. Die Region Kampanien ist dafür bekannt, dass hier auf illegalen Halden giftiger Müll zu Dumpingpreisen verscharrt wird. Vom Staat finanzierte Gemeindeverwaltungen (wie in Mondragone bei Casal di Principe) und private Firmen (wie Orsis "Ecoquattro") sind hier in die Geschäfte der Camorra verstrickt. Die legale Konkurrenz, die wesentlich höhere Preise verlangt, kann da nicht mithalten. Aus ganz Italien kommen die Lieferungen, wie der Staatpräsident gerade erinnerte. Das illegale Müllgeschäft ist weit verzweigt, in der Gegend um Neapel hat es seinen Kern.
"Ich habe nur Schutzgelder gezahlt" zitiert die Lokalzeitung "Il Mattino" Michele Orsi aus den Verhörprotokollen. 15 000 Euro sollen es monatlich gewesen sein, seit 2001. Der Unternehmer kam frei, im April 2007 setzten ihn die Staatsanwälte Raffaele Cantone und Alessandro Milita erneut fest. Beide leiten die laufenden Untersuchungen gegen die Entsorgungsfirma "Ecoquattro", deren Geschäftsführer Orsi war und die laut Staatsanwaltschaft von der Camorra kontrolliert wurde. Wie aus Gesprächsprotokollen der Ermittler hervorgeht, die die Zeitschrift "Espresso" im vergangenen November veröffentlichte, war Orsi tief in einen teuflischen Zyklus um Camorra, Polizei und sogar Politik verstrickt. Der Unternehmer hatte den Ermittlern auch Namen genannt: Von Angehörigen der Camorra, an die er seine Schutzgeldzahlungen leistete, von Polizisten, von Mitgliedern des Sonderkommissariats zur Behebung des Müllnotstandes, das seit Jahren vom Staat Millionenbeträge für die Bekämpfung der Abfallkrise erhält. Und von Politikern, etwa den des in Mondragone bei Casal di Principe geborenen Parlamentsabgeordneten der Alleanza Nazionale, Mario Landolfi.
Begünstigung der Camorra
Landolfi war von 2005 bis 2006 Minister für Telekommunikation in der vergangenen Regierung von Ministerpräsident Silvio Berlusconi und ist derzeit Vorsitzender der parlamentarischen Überwachungskommission des öffentlichen Fernsehens Rai. Gegen ihn wird wegen Korruption, Betrug und Begünstigung der Camorra ermittelt. Der mit dem Fall Orsi befasste Staatsanwalt Raffaele Cantone prüft, ob Landolfi dazu beigetragen hat, dass Mitglieder der Camorra in die kommunale Müllentsorgung angestellt wurden. "Von 22 Angestellten der kommunalen Müllentsorgung waren zehn Camorristi", zitiert "Espresso" ein abgehörtes Telefonat, in dem Landolfis Freund und engster Mitarbeiter, Raffaele Chianese, spricht. Die Camorristi bekämen ein Gehalt, arbeiteten aber nicht für die Müllentsorgung. "Etwa 70 Prozent der Personaleinstellungen waren unnötig und vor allem durch die Hoffnung auf Wählerstimmen motiviert", soll Orsi den Ermittlern gestanden haben. Einer der politischen Profiteure und Akteure sei Landolfi selbst gewesen.
Die Folge dieses Infernos ist, dass aufrichtige Ermittler nicht einmal den lokalen Behörden vertrauen können. Der Staatsekretär für den Müllnotstand, Guido Bertolaso, forderte nun erneut die Auflösung der kommunalen Müll-Konsortien von Neapel und Caserta, um die Camorra aus dem Geschäft zu drängen. Dennoch: Bertolaso war selbst bis vor wenigen Jahren Sonderkommissar zur Behebung des Müllnotstandes. Auch gegen Mitglieder aus seinem Team ermitteln Staatsanwälte. Nichts scheint in Neapel gewiss. Am 17. Juni sollte Michele Orsi vor den Staatsanwälten erneut eine Aussage machen. Sicher ist, dass es dazu nicht mehr kommen wird.