Dieser Text stammt aus dem stern-Archiv und erschien zuerst im Januar 2024.
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Dass wir zum Recherchieren, also zum Arbeiten kommen, ist schon mal schlecht. Einige Dorfbewohner schütteln zur Begrüßung den Kopf. Sie sitzen bei Jerry, auf Korbstühlen, die zur Bar gehören und von denen aus sie über den Feigenbaum in die Bucht blicken. Urlaub müsse man hier machen, sagen sie, aber doch nicht arbeiten! Die untergehende Sonne tunkt den lächerlich schönen Ort in oranges Licht, ein wild gewachsener Strauch schunkelt auf dem Kirchturm im Abendwind. Unten pflückt eine Frau flink Kapern vom Busch. Pollica im Cilento, 2200 Einwohner, zweieinhalb Autostunden von Neapel die kurvige Küste hinab. Die Region trägt das italienische Wort für langsam im Namen, lento. So läuft das Leben hier.
Und es läuft ziemlich lang. Einer Zählung zufolge gab es 2019 unter den etwa 90.000 Einwohnern in der Gegend mehr als 300 Hundertjährige. Dem Bürgermeister von Pollica nach sind es heute sogar bis zu 400. Klar, manche sterben. Die Pandemie, eine Lungenentzündung, ein Herz, das einfach aufhört zu schlagen. Doch es kommen immer neue Alte nach.
Wir, modernste Menschen, tracken unsere Schritte mit Apps, optimieren unsere Ruhephasen, investieren in Kuren für Körper und Geist. Und in Pollica, wo in den Gassen zwischen den dicken Mauern der Palazzi der Empfang stockt, wo alte Männer abends die Spielkarten auf den Tisch kloppen und die Frauen sich jedes Mal bekreuzigen, wenn sie an der Kirche vorbeispazieren, werden sie am Ende trotzdem älter? Leben gesünder? Wie ist das möglich?
