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Wie links ist die SPD? Wie liberal ist die die CDU? Die Programmdebatten, die die Volksparteien am Montag eröffnet haben, sind nur scheinbar fad. Tatsächlich läuten sie den Bundestagswahlkampf 2009 ein.

Einverstanden. Das Thema kommt gähnend langweilig daher, einschläfernd, und es hat den Sex-Appeal einer unfertigen Steuererklärung. Programmdebatten nehmen der Politik scheinbar das, was sie dramatisch und damit spannend macht: die Personen, die Darsteller. Es scheint um Abstraktes zu gehen, um Ismen, um akademischen Firlefanz, der selbst die Herren und Damen Politiker auf ihren Podien quält.

General-Inventur von Wirtschaft und Gesellschaft

Der Schein trügt. Die Programmdebatten, die SPD und CDU in großkoalitionärer Harmonie am Montag eröffnet haben, sind wichtig und spannend. Sie läuten den Bundestagswahlkampf 2009 ein und bringen eine Generalinventur der deutschen Politik und ihrer Parteienlandschaft mit sich.

Für die Volksparteien selbst ist die eigene inhaltliche Verortung überlebenswichtig. Spätestens 2009 ist das großkoalitionäre Liebesspiel vorbei. Bis dahin müssen sich CDU und SPD jeweils als unabhängige Parteien positionieren - am Besten mit einem eigenen, markante Profil. Nur genau da liegt das Problem: In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Lebenswirklichkeit hierzulande so rasant verändert hat, dass die Volksparteien mit ihrer Programmatik schlicht nicht mehr hinterhergekommen sind.

So sind der Arbeiterpartei SPD die Arbeiter schon lange abhanden gekommen, und selbst führende Unions-Politiker kommen mächtig ins Stocken, wenn man sie fragt, was das eigentlich ist, das Konservative. Die Gesellschaft ist stark ausdifferenziert, es gibt kaum mehr einheitliche Milieus, für die sich eine Volkspartei stark machen könnte. Die Lösungen für dringende Fragen lassen sich kaum mehr ideologisch herleiten, die großen theoretischen Entwürfe sind schon lange verworfen worden.

Die Orientierungslosigkeit der deutschen Parteien inmitten dieser vielschichtigen Welt ist dabei nicht neu. Neu ist, dass fast alle nun daran gehen, lange aufgeschobene General-Inventuren von Wirtschaft und Gesellschaft vorzunehmen, um sich dann neu zu erfinden - von der Linkspartei bis zu den Grünen. Die zentralen Fragen, auf die Antworten gesucht werden, stehen ohnehin schon vorab fest: Erstens, wie viel wirtschaftliche Freiheit ist in dieser Gesellschaft nötig? Zweitens, was ist gerecht? Und drittens, wie stark muss der Staat sein, was darf er kosten?

Vorteil CDU

An den aufkeimenden Programmdebatten der Volksparteien ist spannend, dass sich sowohl CDU als auch SPD im Prinzip von der Mitte wegbewegen müssen, um sich zu profilieren. Beide müssen den Spagat hinkriegen, die gemäßigte Haltung einer Volks- und Regierungspartei mit einem radikaleren Entwurf zu verknüpfen, der aber gleichzeitig nicht die Radikalität der jeweiligen Wadenbeißer-Parteien haben darf. Die CDU muss das Liberale in sich neu erfinden, ohne gleich als christliche FDP verschrieen zu werden, die SPD das Linke in sich neu definieren, ohne sich zu sehr mit der Linkspartei gemein zu machen.

Dabei hat die CDU bei ihrer Debatte leichte Startvorteile. Mit ihrem christlichen Hintergrund kann sie gut punkten, zudem kann sie späte Einsichten nun als Innovationen verkaufen. So hat die CDU mit ihrem vormaligen, verstaubten Nationalbegriff gebrochen und ist im Begriff, ihr Familien- und Frauenbild zu entrümpeln, manche nennen das wohlmeinend "nachholende Modernisierung". Eine gewisse Dynamik deutet dieser Begriff auf jeden Fall an.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Darüber hinaus hat die CDU einen Teil ihrer Hausaufgaben in Sachen Selbstfindung schon gemacht. 2003, als Partei-Chefin Angela Merkel auf dem Leipziger Parteitag erzliberale Leitsätze durchdrückte, stellte sie unter Beweis, dass sie zu einem inhaltlich fundierten - wenn auch gewagten und umstrittenen - Wurf imstande ist.

Die Herausforderung für die Union besteht nun darin, das bereits Erreichte zu justieren, den Begriff der Freiheit hoch zu halten, ohne zu herzlos, zu kalt, zu "neo-liberal" zu erscheinen. 2005 erhielt Merkel eine eindeutige Quittung für den Leipziger Kurs. Nun muss sie Ecken und Kanten radikalerer Ansätze abschleifen.

Für die SPD ist die Profilsuche schwieriger

Für die SPD ist es schwieriger, sich neu zu erfinden. In den vergangenen Jahren ist sie immer mehr in die Defensive geraten, weil sie als Regierungspartei ihrer Ur-Klientel - "den kleinen Leuten" - Härten zumutete, ihr verklickern musste, weshalb der Staat nicht mehr so viel leisten konnte wie zuvor. Das waren Operationen am offenen Herzen der Sozialdemokratie.

Nun stehen die Genossen vor der Herausforderung, auf traditionell linke Rezepte - etwa ein Mehr an Staat und Steuern - zurückzugreifen, ohne das Erbe der Schröderschen "Agenda 2010" komplett über Bord zu werfen. Linke Projekte wie etwa aktuell die kaum verklausulierte Absicht, Steuern zu erhöhen, die Erbschaftsteuer und möglicherweise einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, müssen mit einem Schuss Pragmatismus angereichert werden.

Flankierend benutzen immer mehr Genossen daher den Leitbegriff des "vorsorgenden Sozialstaats". Dieser soll dafür stehen, dass die SPD zwar das Sozialstaats-Prinzip hochhalten will und die Ansprüche Einzelner an den Staat für legitim hält, gleichzeitig aber auch verdeutlichen, dass die Genossen auf die Eigeninitiative der Bürger setzen - allumfassend kann die Fürsorge des Staates nicht mehr sein. Die Widersprüche, die die SPD bei ihrer Programm-Debatte zu überwinden hat, sind dabei größer als jene, die die Union plagen. Wahrscheinlich ist auch das ein Grund, warum sehr viele Spitzengenossen die Programmdebatte derzeit gar nicht langweilig finden.