Corona-Plädoyer Inzidenz, Durchseuchung und Flickenteppich: Drei Gründe, warum das Ende der Corona-Maßnahmen zu früh kommt

Die Corona-Schutzmaßnahmen entfallen ab dem 02. April
Ab dem 02. April dürfen die Masken fallen.
© Karl-Josef Hildenbrand / DPA
Die Corona-Schutzmaßnahmen entfallen. Drei Gründe, warum es dafür immer noch zu früh ist. Und ein Plädoyer für ein geplantes Leben mit dem Coronavirus.

Im Frühling ist in vielen Haushalten Ausmisten angesagt. Raus mit dem alten Krempel, ist die Devise. Ausgemistet hat auch die Ampel-Regierung – und zwar bei den Corona-Maßnahmen. Treffen darf sich in den meisten Teilen Deutschlands, wer will. Impf-, Genesenen- und Testnachweise entfallen – außer Kino- oder Restaurantbesitzer entscheiden sich weiterhin dafür. Und: Die Maske ist nicht mehr Pflicht, von ein paar wenigen Ausnahmen einmal abgesehen.

Damit hat die Bundesregierung ihr im Herbst angekündigtes Versprechen wahr gemacht. Nach zwei von Kontaktbeschränkungen und Lockdowns geprägten Pandemiejahren darf sich Deutschland nun also locker machen. Ob sich das Land das leisten kann, ist jedoch eine andere Frage. Gründe, warum dem nicht so ist, gibt es genug.

Das Virus gibt nicht einfach so auf

Dass sich das Coronavirus weder zähmen lässt, noch sich nach politischen Öffnungsplänen richtet, sollte der Regierung mittlerweile bekannt sein. Die Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) sind eindeutig. Die Inzidenz kennt seit Beginn des Jahres nur einen Weg: steil nach oben. Zwischenzeitlich vermeldete das RKI zwar leichte Einbrüche. Im Vergleich zu vorhergehenden Wellen bewegen wir uns aber aktuell auf einem Rekordniveau.

Gleichzeitig nähert sich die Inzidenz von Geboosterten, doppelt Geimpften und Ungeimpften immer weiter an. Der Grund: Die für den Wildtyp entwickelte Impfung schützt nur bedingt vor den gegenwärtig dominanten Omikron-Varianten. Laut dem aktuellen RKI-Wochenbericht liegen die Inzidenzen in der Altersgruppe zwischen 18 und 59 Jahren zwischen 148 und 159. Dabei handelt es sich um symptomatische Verläufe. Deutliche Unterschiede zwischen Geimpften und Ungeimpften gibt es dagegen bei der Hospitalisierungsinzidenz. Wer nicht immunisiert ist, landet häufiger auf der Intensivstation. Allerdings sind die Zahlen gegenwärtig so niedrig, dass das Gesundheitssystem nicht nennenswert belastet wird.

Politiker und Gesundheitsexperten plädieren deshalb dafür, der Inzidenz weniger Bedeutung beizumessen – denn das Ziel, die Krankenhäuser zu entlasten, sei mit der Impfung erreicht worden. Und: Der Durchseuchung werden wir ohnehin nicht entkommen, so die gängige These.

Folgen der Durchseuchung kaum abzuschätzen

Das mag sein. Allerdings sollte man sich angesichts der hohen Infektionszahlen die Frage stellen, welche Folgen die Durchseuchung für die Gesundheit der Bevölkerung und die Wirtschaft haben kann. In den vergangenen Wochen häuften sich wieder Berichte von ehemals an Covid Erkrankten, die nun mit den Folgen der Erkrankung zu kämpfen haben. Noch sind die Nachwirkungen wenig erforscht. Erste Studienergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass zwischen zehn und 30 Prozent der Corona-Patienten Long Covid entwickeln. Auf Deutschland bezogen wären das zwischen 800.000 und 24.000.000 Menschen, die medizinisch betreut werden müssten. Was wiederum das Gesundheitssystem herausfordert.

Zum anderen bedeutet das aber im schlimmsten Fall auch Millionen Menschen, die krankheitsbedingt ihre Arbeit kurz- oder langfristig aufgeben müssten – zu Lasten der Wirtschaft. Zu dem Schluss kommt auch das Brookings-Institut nach Berechnungen für die Vereinigten Staaten.

Und selbst Infizierte mit mildem Verlauf können noch Wochen nach der Erkrankung Symptome aufweisen und bei ihrer Arbeit beeinträchtigt sein. Aus Daten einer britischen Studie geht etwa hervor, dass über 30 Prozent auch vier Wochen danach noch unter einer chronischen Fatigue (Müdigkeit) litten. In einer Metaanalyse fanden Forscher heraus, dass Fatigue (58 Prozent), Kopfschmerzen (44 Prozent) und Aufmerksamkeitsdefizite (27 Prozent) zu den drei häufigsten Symptomen nach einer Infektion zählen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Flickenteppich und Krisenkommunikation

Das dritte Argument ist politischer Natur. In Sachen Krisenmanagement und -kommunikation hat die Politik immer noch nicht dazugelernt. Dass bundesweit einheitliche Pandemieregeln, die mehr als gewünscht sind, weiterhin von einem Flickenteppich ersetzt werden, ist nach zwei Pandemiejahren kaum nachzuvollziehen. Selbiges gilt für die Tatsache, dass die Bundesregierung die Maßnahmen eigentlich abgeschafft hat, der Bundesgesundheitsminister weiterhin mahnt und die Länder geradezu auf Knien anfleht, die Hotspot-Regelung umzusetzen.

Das untergräbt das Vertrauen der Bürger in die politischen Institutionen, werden Sozialwissenschaftler nicht müde zu betonen. Umfragen etwa von der Universität Erfurt oder dem Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation bestätigen die Befürchtungen. Demnach schwankte das Vertrauen in die Bundesregierung seit Pandemiebeginn zwar, befindet sich aber insgesamt in einer Abwärtsspirale.

Ein Plan für das Leben mit dem Virus fehlt

Ob die Lockerungen daran etwas ändern? Vielleicht kurzfristig. Das zeigt das Beispiel Österreich. Die Alpenrepublik war Deutschland in Sachen Corona-Wellen, Impfpflichtdebatte und Lockerungen immer ein Schritt voraus. Die Infektionszahlen entwickelten sich hierzulande mit etwas Verzug ähnlich wie bei den Nachbarn. Österreich hat bereits Anfang März alle Corona-Maßnahmen auslaufen lassen. Doch gut zwei Wochen später wurden die Regeln wieder verschärft, die Maske ist jetzt wieder Pflicht. Ähnliches könnte auch Deutschland wiederfahren – zumal die Entwicklung bei den Fallzahlen alles andere als rückläufig ist.

Am erstaunlichsten an der ganzen Situation ist aber, dass die Politik offenbar ohne konkrete Planung ins Leben mit dem Coronavirus übergeht. Alle Schutzmaßnahmen mit dem Argument aufzuheben, dass sich ohnehin früher oder später jeder mit dem Virus infizieren wird, lässt die Krankheit weder verschwinden, noch wird sie dadurch ungefährlich. Noch immer sterben Menschen, laut RKI waren es zuletzt 348 am Tag (Stand 30. März 2022).

Was es spätestens jetzt braucht, ist eine saisonale Strategie, die sich auch an den Inzidenzen orientiert und die Folgen einer Corona-Infektion berücksichtigt. Sprich: Strengere Maßnahmen im Herbst und Winter. Aber auch im Frühling und Sommer sollten die Inzidenzen bedenkliche Höhen erreichen. Aber darauf muss sich die Bundesregierung erst einmal einigen können.