Nach zwei Pandemiejahren sind die Corona-Maßnahmen zuweilen nur noch haarsträubend. Sinn und Zweck erschließen sich mir an ganz vielen Stellen nicht mehr. Warum entfällt für Geboosterte die Testpflicht direkt nach der Impfung, während doppelt Geimpfte erst zwei Wochen nach dem Piks als geimpft gelten? Warum würde ich bei einer Impfpflicht nach drei Impfungen als vollständig geimpft gelten, obwohl Studien zeigen, dass der Impfschutz wieder nachlässt? Und warum darf ich in Bremer Kinos mit 2G-Plus ohne Maske am Platz mein Popcorn futtern, während das etwa in Hamburg nicht geht?
Dieses ewige Hin und Her bei den Maßnahmen, die fehlende Einheitlichkeit ist vor allem eines: nervig. Klar, das Virus verändert sich und zwingt uns dazu, uns regelmäßig neu anzupassen. Das ist auch nicht das Problem. Das Problem ist die Kommunikation der Regierung. Dass es auf so viele Fragen einfach keine eindeutigen Antworten gibt, ist belastend. Ich will unbedingt daran glauben, dass wir mit all den Maßnahmen irgendwann die Pandemie beenden. Das fällt bei den zahlreichen Widersprüchlichkeiten aber immer schwerer. Auf der anderen Seite ist es bedauerlich, weil die Politik mein Vertrauen langsam aber sicher verspielt. Und da bin ich nicht die Einzige. Die Cosmo-Studie von der Universität Erfurt zeigt, dass das Vertrauen in die politischen Institutionen rückläufig ist. Mittlerweile liegt es sogar unter dem Niveau, das wir mal vor der Pandemie hatten.
Das ist ein Problem, denn wenn das Vertrauen sinkt, werden die nötigen Schutzmaßnahmen immer weniger akzeptiert. In dem jüngsten Cosmo-Bericht heißt es, das "Schutzverhalten ist allenfalls stabil und liegt unter dem Schutzverhalten in den letzten Wellen". 30 Prozent der Befragten wissen nicht mehr genau, welche Regeln für sie gelten. Und: "Wer hier die Übersicht verloren hat, hält sich auch weniger an AHA-AL Regeln.". Auf der anderen Seite wächst der Wunsch, nach bundeseinheitlichen Regeln. 75 Prozent wären laut der Studie dafür.
"Evidenzbasiert" ist keine Erklärung, liebe Politik!
Schuld daran ist eindeutig die politische Vermittlung. Jens Spahn hat das kommunikative Chaos perfektioniert. Mit seinem Versprechen, wir könnten uns aus der Pandemie herausimpfen, und der Entscheidung die pandemische Notlage aufzuheben, hat der ehemalige Gesundheitsminister der Situation die Dramatik genommen. Und dann erschien die britische Studie, die zeigte, dass die Impfung nicht so optimal schützt, wie gedacht. Da waren wir plötzlich im Zwiespalt, denn die Nachricht rüttelte auf und bot endlich eine Erklärung für die plötzlich wieder steigenden Inzidenzen. Aber die Politik interessierte sich dafür nicht sonderlich. Unter der Ampel, die sich damals noch konstituierte, wurde direkt der Freedom Day für den März ausgerufen, das Ende der Pandemie in Aussicht gestellt.
Und jetzt ist Omikron da. Die Impfung schützt dagegen nur bedingt, trotzdem wird sie weiter angepriesen, eine Impfpflicht angedroht. Von einem Tag auf den anderen wird der Genesenenstatus verkürzt – ohne Erklärung. Als die Meldung rauskam, schrieb ich ans Robert-Koch-Institut (RKI) mit der Bitte um eine wissenschaftliche Erklärung. Die Antwort: Der Status sei verkürzt worden, "da die bisherige wissenschaftliche Evidenz darauf hindeutet, dass Ungeimpfte nach einer durchgemachten Infektion einen im Vergleich zur Deltavariante herabgesetzten und zeitlich noch stärker begrenzten Schutz vor einer erneuten Infektion mit der Omikronvariante haben."
Von Lesern kamen verärgerte Briefe. "Befriedigt Sie diese Begründung? Oder muss man, wenn man Worte wie 'wissenschaftlich' und 'Evidenz' erwähnt hat, nicht mehr weiter begründen? (...) Ich finde das unbefriedigend, unkritisch, unmündig ..." Der Leser hatte recht. Wie sollte man diese Entscheidung als normaler Bürger verstehen? Die Studien, auf die sich das RKI zum Zeitpunkt der Nachfrage bezog, wurden erst später auf der Seite verlinkt – enthalten aber keine wirklich handfesten Belege oder Erklärungen für die Entscheidung.
Der Corona-Expertenrat sollte eine neue Stelle ausschreiben
Bis heute habe ich das Gefühl, dass sämtliche Institutionen, die mit dem Pandemiemanagement betraut sind, keine Ahnung von der richtigen Kommunikation haben. Da hilft es auch nicht, dass sich die Bundesregierung eine "wissenschaftliche Pandemiepolitik" auf die Fahnen schreibt, der aktuelle Bundesgesundheitsminister vom Fach ist und mehr als sein Vorgänger von den medizinischen Studien versteht.
Wer seine Entscheidungen nicht erklären kann, versagt schnell einmal. Das gefährdet die politische und wissenschaftliche Arbeit. Das sieht wohl auch der Expertenrat so. Das Gremium hatte am Wochenende ein Papier veröffentlicht, in dem es genau darum geht: um evidenzbasierte Risiko- und Krisenkommunikation. "Ein Mangel an Übereinstimmung von verfügbaren Informationen, ihrer Bewertungen und den resultierenden Empfehlungen trägt zu Verunsicherung der Bevölkerung bei, bietet Angriffsfläche für Falsch- und Desinformation, untergräbt das Vertrauen in staatliches Handeln und gefährdet den Erfolg von wichtigen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit", heißt es in dem Positionspapier. Die Mitglieder betonen, dass wissenschaftliche Informationen übersetzt werden und anschließend über sämtliche Kanäle zur Bevölkerung gebracht werden müssen.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Welche Länder die höchste Corona-Impfquote haben – und wo der Impfstoff fehlt

Ob das etwas bringt? Man weiß es nicht. Sollte das nicht der Fall sein, gebe es noch eine Lösung. Der Expertenrat sollte einen Kommunikationsberater in seinen Reihen aufnehmen. Vielleicht kann er der Politik erklären, warum das Erklären so wichtig ist.