Es ist gerade zweieinhalb Wochen her, da hat Franz Müntefering der SPD noch einmal - wie wir jetzt wissen: ein letztes Mal -, gezeigt, was sie an ihm hat: einen politischen Vollprofi und begnadeten Redner. Einen, der - so knochentrocken sauerländisch er daherkommen mag - Säle zum Kochen bringen kann. Einer, der so ganz andere Talente hat als der gegenwärtige Parteivorsitzende, der ihn gerade beim Arbeitslosengeld so übel mitgespielt hatte.
Einen Tag, nachdem Beck das Publikum zwei Stunden lang sediert und verstört hatte, hielt Müntefering auf dem SPD-Parteitag in Hamburg eine Rede, die ein Fünftel so lang war, aber fünfmal aufregender, mindestens. Er rieb der SPD ihre Erfolge, die sie manchmal nicht sehen will, unter die Nase, er streichelte die linke Seele mit Mindest- und Höchstlöhnen, aber er sagte nichts zum ALG 1. Nur am Schluss, da erzählte er noch einmal die Anekdote, wie er als junger Abgeordneter Mitte der 70er Jahre seinen Antrittsbesuch beim damaligen Fraktionschef Herbert Wehner gemacht hatte. "Pass auf, dass du nicht austrocknest", habe Wehner ihm damals geraten.
Dann straffte sich Müntefering, den viele nur "Münte" oder "der Franz" nennen, hinterm Pult, guckte in den Saal und schloss: "Ich wollte euch heute nur sagen, liebe Genossinnen und Genossen, es ist noch etwas da, ich bin noch nicht ausgetrocknet." Da riss es die Delegierten von den Sitzen, und auch mancher Journalist bekannte hinterher, dass er fast mitgeklatscht hätte. In diesem Moment war Müntefering, wieder mal, ein letztes Mal, der Parteivorsitzende der Herzen. Und kein Mensch hätte damit gerechnet, dass er 17 Tage später seine Ämter als Vizekanzler und Arbeitsminister niederlegen würde.
Er mag Überraschungscoups
Aber auch vor zwei Jahren und 13 Tagen, am Reformationstag 2005, hatte auch niemand damit gerechnet, dass Müntefering den SPD-Vorsitz - "das schönste Amt nach Papst" - hinschmeißen würde. Er hat es einfach gemacht, nachdem der Parteivorstand ihm bei der Auswahl seines Generalsekretärs nicht gefolgt war. Einfach gemacht und dann verkündet. Kurze Sätze. Klare Kante. So wie heute morgen. Er mag Überraschungscoups.
Bis drei Uhr nachts waren die Koalitionsspitzen noch zusammen gesessen im Kanzleramt, mit Müntefering, sie haben Wein getrunken und noch ein wenig gequatscht nach der Koalitionsrunde. Von Rücktritt war da keine Rede. Mit keinem Wort. "Ich war meistens ein Alleiner", hat Franz Müntefering mal über sich gesagt. Ein Mensch mit blickdichter Psyche, der ohne enge Freundschaften auskommt und politische Entscheidungen und private Probleme am liebsten mit sich selbst ausmacht, allenfalls mit seiner Frau Ankepetra. Deren schwere Krebserkrankung war der Grund für seinen Rücktritt - wenn auch die erneute Weigerung der Kanzlerin, in Sachen Mindestlohn Wort zu halten, ihm den Schritt sehr erleichtert haben dürfte. "Tief enttäuscht", habe ihn das.
"Ich war meistens ein Alleiner"
Soweit man das als Außenstehender beurteilen kann, liebt Franz Müntefering seine Frau, die er 1995 geheiratet hat, sehr und innig. "Ein Kumpel, mit dem man Pferde stehlen kann", sagt er. Es ist seine zweite Ehe. Die beiden haben sich im Parlamentsbetrieb kennengelernt und früher hat sie ihn auch gelegentlich zu Terminen begleitet. Ansonsten haben sie ihr Privatleben abgeschottet, soweit das geht als Spitzenpolitiker. Müntefering hat da nur karge Auskunft gegeben. Es hat ihn nicht unsympathischer gemacht.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
2002, im Wahljahr, war die Krankheit ausgebrochen. Müntefering pendelte zwischen der Wahlkampfzentrale, die er als SPD-Generalsekretär leitete, und der Berliner Charité hin und her, verbrachte Stunden und Nächte in der Klinik. Von der Doppelbelastung wussten nur die engsten Mitarbeiter. Damals hat er erstmals mit dem Gedanken gespielt, aufzuhören. Er hat es gelassen, nachdem die Therapie angeschlagen hatte. Voriges Jahr hatte Ankepetra Müntefering einen Rückfall, und wieder hat er ein Leben zwischen Amt und Krankenbett geführt. In diesem Sommer ist das Paar nach Bonn gezogen, in ein Haus, das sie schon vor Jahren gekauft hatten. Es war der Einstieg in den Ausstieg.
Ungewöhnliche Karriere
Es ist der Ausstieg aus einer der ungewöhnlichsten Karrieren in der deutschen Nachkriegspolitik. Acht Jahre Volksschule, Vater Kriegsheimkehrer, Lehre als Industriekaufmann - dass Franz Müntefering mal zweiter Mann einer Bundesregierung werden würde, ist nicht ganz so, aber ähnlich ungewöhnlich wie der Aufstieg von Gerhard Schröder. Wobei der schon Ministerpräsident war, als nur Eingeweihte etwas mit dem Namen Müntefering anfangen konnten. "1990 hat mich keiner von Ihnen gekannt", hat er dem stern mal gesagt, "da war ich 50 und Sprecher für Wohnungsbau."
Seine Karriere vollzog sich langsam, aber stetig: Bundestagsabgeordneter, Fraktionsgeschäftsführer, Landesminister in NRW, SPD-Bundesgeschäftsführer, Bundesverkehrsminister, SPD-Generalsekretär, Fraktionschef, SPD-Vorsitzender, Vizekanzler. Müntefering hat nie laut Ichichich gerufen, wenn ein Amt oder Posten zu besetzen war, aber er hat immer dafür gesorgt, dass er ins Gespräch kam - und dann in den Job.
Manchmal steht ihm seine Sturheit im Wege
Auffallend übrigens, dass der Mann, der morgens unter der kalten Dusche immer bis 100 zählt, die meisten seiner Aufgaben nicht bis zum Ende gebracht hat. Er hatte immer gute Gründe aufzugeben oder zu wechseln. Aber manchmal hätte es auch gute Gründe gegeben, es nicht zu tun, beim Rücktritt vom Parteivorsitz etwa. Aber da stand dem durchaus Ehrpusseligen seine Sturheit im Wege. Wenn er etwas als Richtig erkannt hatte, zog er es gnadenlos durch. Den Wahlkampf 1998 für den Kandidaten Schröder, von dem er zunächst wenig hielt, ebenso wie später die Agenda 2010. An der hält er sogar eiserner fest als deren Erfinder. Dass Schröder ihn dafür als "Moses" hochnahm, muss Müntefering tief getroffen haben. Aber so etwas zeigt er nicht, das merkt er sich nur.
"Augenhöhe" ist für Franz Müntefering extrem wichtig. Keiner Herr und keiner Knecht. Nicht bei den Arbeitnehmern - und auch nicht in der Politik. Er legte großen Wert darauf, in der Koalition als gleichrangig behandelt zu werden von der Kanzlerin. Dass deren Ansprechpartner mehr und mehr der Parteichef Beck wurde, von dem Müntefering weniger hält als der von sich - das mag ihm letztendlich den Rückzug erleichtert haben.
Mehr Wehner als Weichei
Es ist schwer, sich Franz Müntefering als Privatier vorzustellen; nach der Politik brauche er wohl etwas, "was meine Vereinsmeiermentalität entspricht", hat er mal gesagt. Noch schwerer allerdings ist es, sich die Politik ohne Müntefering vorzustellen. Er ist so etwas wie der letzte seiner Art. Mehr Wehner als Weichei. So was wird heute nicht mehr gebaut in der deutschen Sozialdemokratie. Wahrscheinlich ahnt die SPD noch nicht einmal, wie sehr er ihr fehlen wird.
Franz Müntefering ist nicht ausgetrocknet. Es ist noch was da - aber nicht genug, um weiterzumachen wie bisher. Schade. Wir werden ihn vermissen.