Sind Afghanen, dieses zerstrittene, kriegerische Volk, überhaupt zum Frieden fähig?
Man muss sich hüten, die Afghanen als kriegerisches Volk zu bezeichnen. Bei den Paschtunen zum Beispiel gibt es Zeiten für den Krieg und Zeiten für den Frieden. Selbst im Kampf gegen die Sowjets wurden die Intervalle deutlich - Zeiten, in denen die Männer die Front verlassen haben, um die Felder zu bestellen.
Haben Afghanen eigentlich ein Nationalbewusstsein, oder fühlen sie sich als Angehörige bestimmter Volksgruppen?
Wir im Westen reden neuerdings nur noch von Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und so weiter. Aber die Menschen im Land sehen sich in erster Linie als Afghanen, vor allem in der Abgrenzung zum Ausland.
Haben sie eine eigene Mentalität?
Es gibt einen Begriff, der sich »Afghaniat« nennt. Er fasst zusammen, wie ein Afghane sein soll: freiheitsliebend, stolz und respektvoll. Und er soll sein Land, seine Frau, seine Familie verteidigen können. Das hat nichts mit Religion zu tun, sondern das ist eine Art Ehrenkodex.
Welche Eigenschaften sind dabei besonders wichtig?
Unabhängigkeit ist ganz wichtig, auch Stärke, symbolisiert durch das Tragen von Waffen, speziell Gewehren.
Immer wieder hört man, dass Überläufer gekauft werden. Gehört das auch zur afghanischen Ehre?
Höchstes Ziel für einen Afghanen ist nicht der individuelle Vorteil, sondern das Überleben des Dorfes oder des Stammes. Das ist auch ein wichtiger Teil des Afghaniats. Nahe der Frontlinien hat man genau geprüft, was für die Gemeinschaft am besten ist - wechseln oder nicht wechseln. Aber 22 Jahre Krieg haben das Sozialverhalten stark beeinträchtigt, vor allem die Strukturen der rund 500 Stämme. Mitunter kommen junge Kommandanten nach oben, deren Autorität nur noch in der Kalaschnikow begründet ist. Sie suchen den eigenen Vorteil. Und für einen Seitenwechsel wird oft viel Geld geboten.
Wie viel?
Von General Dostum wissen wir, dass Kommandanten mehrere hunderttausend Mark gezahlt wurden. Ein Soldat kostet derzeit einen US-Dollar pro Tag.
Wie stark sind die Taliban noch?
Keineswegs sind sie schon besiegt. Sie haben sich relativ geordnet zurückgezogen.
Die Sowjets hatten einst alle Städte erobert, bekamen das Land aber nie unter Kontrolle, obwohl sie mit 50 000, zeitweise bis zu 100 000 Mann präsent waren. Um Kandahar stehen noch 40 000 Taliban unter Waffen. Vor wenigen Tagen haben sie zwei Distrikte zurückerobert - eine Strafaktion, bei der es 160 Tote gab.

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Was kann der Westen tun, um einen Friedensprozess in Gang zu bringen?
Die Frage ist doch, was hätte der Westen tun können, um das, was jetzt geschieht, zu verhindern. Man hat auf eine rein militärische Lösung gesetzt und die Politik komplett vergessen.
Bündnispolitik wird immerhin gemacht. Der Westen setzt auf die Nord-Allianz.
Der Westen unterstützt eine Kriegspartei. Seit die Sowjets 1979 einmarschiert sind, gab es im Land eine Million Tote. 40 Prozent davon waren Opfer innerafghanischer Kämpfe, die vielfach von ausländischen Kräften geschürt wurden. Und das macht man heute wieder - obwohl die Verbrechen der Nord-Allianz bekannt sind. Sie hat Schulen zerstört und in einigen Regionen Frauen unter die Burka gezwungen, noch bevor die Taliban das taten.
Wen soll man unterstützen, wenn nicht die Nord-Allianz?
Es gab ein Angebot afghanischer Kräfte, von Balutschen, Tadschiken, Hazara und Paschtunen in insgesamt neun Provinzen des Südens und Ostens, die gegen die Sowjetunion gekämpft hatten,
aber am Bürgerkrieg zwischen Taliban und Nord-Allianz nicht beteiligt waren. Sie wollten ihre Gebiete von den Taliban für unabhängig erklären und eine 15 000 Mann starke Streitmacht aufstellen, die sie bereit waren, einem zentralen UN-Kommando unterzuordnen. Sie verlangten dafür politische Anerkennung und Lebensmittelhilfe. Der Westen hat auf das Angebot nicht reagiert.
Aber wie sollten die Nahrungsmitteltransporte denn durchkommen?
Nur die internationalen Organisationen kamen nicht durch. Über innerafghanische Gruppen war es immer möglich, Hilfe zu leisten. Dass man in Afghanistan nichts machen konnte, stimmt einfach nicht. Aus meiner Erfahrung war es immer möglich, Waren hereinzubringen und die Leute zu unterstützen. Sogar noch zu einem Zeitpunkt, als das Bombardement der Amerikaner bereits begonnen hatte. Doch jetzt sind die alten Strukturen zusammmengebrochen, und westliche Organisationen haben vielfach den Kontakt zu ihren Vertrauensleuten verloren. Wir wissen nicht mehr, wer welche Gebiete kontrolliert. Sind es die Taliban, die Nord-Allianz oder einzelne Stämme? Lufttransporte, wie sie die Aktionisten jetzt befürworten, sind sehr teuer und bringen auch nur Hilfe für die Städte.
Sind Blauhelm-Truppen die Lösung?
Ich glaube nicht, dass ein Land bereit wäre, jetzt für eine Friedensmission Truppen zu stellen. Die UN haben sich bisher eher gewunden in dieser Frage, denn in Afghanistan prallen verschiedene ausländische Interessen aufeinander.
Der Iran, Russland, die Golfstaaten, Indien, der Westen, der König, Pakistan - jeder unterstützt andere Kräfte in Afghanistan. Jeder versucht, seine Interessen mit seinen Gewährsleuten durchzusetzen, und alle wollen Gelände gewinnen, um später eine günstigere Ausgangsposition zu haben.
Gibt es trotzdem eine politische Lösung?
Man müsste die Regionalmächte dazu bringen, das Land endlich in Ruhe zu lassen. Der Westen sollte schleunigst dafür sorgen, dass sich die Nord-Allianz zurückhält. Man müsste dem Volk die Möglichkeit geben, seine Stimme zu erheben.
Geschieht das nicht auf der Bonner Konferenz?
Nein. Wer ist denn da vertreten? Die Nord-Allianz, der König und noch ein paar andere Gruppen. Eine repräsentative Auswahl ist das nicht gerade. Die Alternative dazu wäre: Jeder der 260 Distrikte benennt zwei Vertreter, und zwar nicht nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Denn jeder Distrikt hat letzten Endes eine Mischbevölkerung. Es wäre der größte Erfolg der Bonner Konferenz, wenn sie so eine Versammlung vorbereiten könnte - eine Jirga.
Präsident Rabbani sagt, dies sei Ziel der Konferenz.
Ich glaube noch nicht daran. Die Vergangenheit der Teilnehmer spricht dagegen. König Sahir hat zwar einen hohen Status - aber nur symbolisch. Niemand sonst kann das Land einen.
Aber der König hat keine Truppen. Die Nord-Allianz hat Truppen, ist aber noch nie dadurch aufgefallen, dass sie sich an Verträge gehalten hätte. Die Nord-Allianz ist Teil des Problems und nicht die Lösung.
Interview:
Peter Meroth/Tilman Müller
Buch-Tipp:
Michael Pohly und Khalid Durán: »Nach den Taliban, Afghanistan zwischen internationalen Machtinteressen und demokratischer Erneuerung«, Ullstein 2001, 13,59 Mark.