Müll-Wohnung Von aller Welt verlassen

  • von Frauke Hunfeld
Vier Kinder hausten monatelang in einer zugemüllten Berliner Wohnung. Der Vater war weg, die Mutter blieb weg, das Jugendamt schaute nicht so genau hin.

Im schlimmsten Fall macht er sich jetzt Vorwürfe. Hätte er doch nichts gesagt. Einfach weitergemacht. Eine neue Ausrede, eine andere Erklärung, ein Lächeln, morgen denkt sie dran, an die Unterschrift, das Geld, den Termin, ganz bestimmt. Oder übermorgen. Dann wäre das alles nicht rausgekommen. Dann hätten sie das geschafft. Es ging doch. Es war doch gegangen, all die Monate, das Aufstehen, die Kleinen fertigmachen, die Schulmappe, die Hausaufgaben, das Leben. All die Monate, seit Mutter fort war.

Aber er konnte einfach nicht mehr. Die Klassenfahrt war nicht bezahlt, das Büchergeld fehlte. Der Hausbesitzer stand vor der Tür und wollte Miete, im Briefkasten stapelten sich Rechnungen. Die Kleine war krank, und Hilfe konnte er nicht rufen, denn das Telefon war schon lange abgestellt. Außerdem konnte er niemanden in die Wohnung lassen. In der Küche lebten Insekten zwischen Schmutzgeschirr und verklumpten Essensresten, eine Tür ließ sich nicht mehr öffnen, weil dahinter der Müll stand. Vor einiger Zeit waren sie mit ihrem kleinen blauen Toaster in den Flur gezogen, um dort zu frühstücken, seit Monaten Toast mit Margarine. Bis zuletzt hatten sie versucht, wenigstens die Kinderzimmer in Ordnung zu halten, mit den Doppelstockbetten und dem Tokio-Hotel- Schriftzug an der Wand. Aber es ist schwer, vier Kinder zu versorgen, wenn man selbst erst zwölf ist. Jetzt war nicht mal mehr Geld da, und Mama war wieder nicht gekommen zum Treffen mit dem Amt, das an der Schule stattfinden sollte. Dabei hätte sie es nicht weit gehabt, sie wohnt doch nur ein paar Straßen von der Schule entfernt im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, bei ihrem neuen Freund. Warum war sie nicht gekommen? Als die vom Amt in der Schule standen und ihn fragten, nach der Mutter und nach der Klassenfahrt, und wo sie ist, da konnte Benjamin* einfach nicht mehr.

"Vielleicht hatte ich die Schnauze voll"

Die Mitarbeiter des Jugendamts trauten sich nicht allein in die Wohnung. Sie riefen eine Funkstreife. Am Vormittag des 27. April also betraten Polizisten die Wohnung, in der vier Kinder zwischen acht und zwölf Jahren monatelang allein gelebt hatten. Die Beamten trugen weiße Schutzanzüge, zur Eigensicherung und zur Bewahrung eventueller Spuren, denn vielleicht lag ja irgendwo auch noch ein totes Kind, wäre nicht das erste Mal. Sie fanden aber nur ein kleines krankes Mädchen und drum herum eine Wohnung, die als Lebensraum nicht mehr zu erkennen war. Sie fotografierten, notierten und schrieben einen nüchternen Bericht: In der Vierzimmerwohnung hängen in allen Räumen Spinnweben von der Decke. Die Toilette ist verdreckt und mit Kot bedeckt. Der gesamte Fußboden ist mit Müll, Unrat und verschmutzter Wäsche bedeckt. Kindgerechte Nahrung gibt es nicht. Im Kühlschrank befindet sich eine undefinierbare braune Masse. Die Mutter ist nicht anwesend, zum Vater, einem Mosambikaner, besteht kein Kontakt. Die Kinder wissen nicht, wo ihre Mutter gerade ist. Sie wohne nicht mehr bei ihnen und sei nur hin und wieder vorbeigekommen, um etwas Geld dazulassen. Niemand weiß, was Gabriele B. dazu bewogen hat, ihre Kinder sich selbst zu überlassen. Wahrscheinlich weiß sie es selbst nicht. "Vielleicht hatte ich einfach die Schnauze voll und brauchte mal eine Auszeit", sagte die 46-Jährige am Tag nach der Entdeckung ihrer Kinder einer Zeitung. Fünf Kinder hat die arbeitslose Kindergärtnerin, der älteste Sohn ist 22 und wohnt in Essen. Die Familie lebt von Hartz IV, zwischendurch jobbte Gabriele B. in einer Kita im Prenzlauer Berg.

Es gab nicht nur schlechte Zeiten. Nachbarn und Bekannte erzählen von freundlichen, wohlerzogenen Geschwistern, von einem liebevollen Umgang der Mutter mit ihren Kindern, von Eiscreme und Spielplatznachmittagen. Auch die Wohnung war einmal in freundlichen Farben gestrichen und geschmackvoll und kindgerecht eingerichtet gewesen. Lustige Patschhändchen verzieren noch immer die Wohnungstür und ein Aufkleber: "Alles wird gut!" Doch irgendwann brechen die Erzählungen ab. Irgendetwas muss passiert sein. Vielleicht war die Mutter auch nur mit ihrer Kraft am Ende, ausgelaugt von diesem ständigen Gezerre von Forderungen, denen sie nicht nachkommen konnte oder wollte. Seit Ende vergangenen Jahres hat man die Mutter immer seltener gesehen und die Kinder immer öfter allein. In der Schule habe keiner etwas gemerkt, erklärt Schulleiter Jürgen Zipperling auf der Website der Grundschule. Die Mutter sei zu Elternabenden erschienen, die Kinder seien stets sauber und "adrett gekleidet" gewesen, "mit ordentlich gepackter Schulmappe" und Frühstücksbroten. Warum sich keines der Kinder an einen Lehrer gewandt hat, weiß man nicht. Vielleicht, um die Mutter zu schützen, vielleicht, weil sie dachten, man glaubt ihnen nicht, vielleicht, weil Kinder eben so sind: Sie lieben auch die Eltern, die versagen, denn es sind die einzigen, die sie haben.

Dem Jugendamt ist die Familie seit 1998 bekannt. Damals gab es unter anderem Schwierigkeiten mit dem ältesten, damals 13-jährigen Sohn. Immer wieder gab es auch Geldsorgen, immer wieder Überforderung. Immer wieder waren Familienhelfer in der Wohnung, gingen mit zu Ämtern oder Hilfsorganisationen, um Geld für dringend Benötigtes wie zum Beispiel Möbel aufzutreiben. Der letzte Mitarbeiter der Familienhilfe verließ die Wohnung im Oktober 2006. Warum er nichts bemerkt hat, darüber sind die Aussagen des Jugendamts bisher widersprüchlich. Die zuständige Jugendstadträtin erklärt, ein Sozialarbeiter habe sich "intensiv um die Familie gekümmert". Wie das "intensive Kümmern" aussah, ist unklar - ebenso, warum sich kein Kind dem Sozialarbeiter anvertraut hat. Eine Ebene tiefer will man von alldem gar nichts wissen. "Man hat die Familie nicht betreut, sondern eher beraten", sagt Axel Biere, Regionalleiter des sozialpädagogischen Dienstes.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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"Ich hatte ein komisches Gefühl"

Fakt ist, dass man einen Familienhelfer nicht einfach bestellen kann, wenn einem gerade mal alles zu viel wird. Wer Familienhilfe bekommt, muss erhebliche Probleme nachweisen. Fakt ist auch, dass der Vermieter persönlich beim Jugendamt erschienen war, um auf die Zustände in der Familie hinzuweisen: "Ich hatte ein komisches Gefühl, weil ich nie die Mutter gesehen habe." Axel Biere hält dagegen: "Dem Mann ging es um die Mietschulden, und wir haben ihm helfen können." Das war Ende Februar. Dennoch dauerte es Wochen, bis man sich mit der Mutter verabredete - in der Schule, nicht in der Wohnung.

Gabriele B. ist inzwischen zu einer lokalen Berühmtheit geworden. Sie hat Fernsehinterviews gegeben und gesagt: "Ich will ja nicht betteln, aber wär schön, wenn wir mal einen Urlaub bekämen." Inzwischen hat sie den Urlaub sicher raus, denn sie hat einen "Exklusivvertrag" mit einer Boulevardzeitung unterschrieben, die dafür bezahlt, die "Horror- Mutter" beim Putzen ihrer Wohnung fotografieren zu dürfen. Ingo S., Gabriele B.s neuer Freund, möchte 2000 Euro, "dafür erzähle ich die ganze Story aus dem Nähkästchen. Aber ohne Quittung, bar auf die Hand, sonst gibt’s wieder nur Ärger mit dem Amt". Er kennt Gabriele B. erst seit einem Jahr, sagt er. Dass sie Kinder hatte, wusste er, auch habe er hin und wieder für die Kinder gekocht. In der Wohnung war er aber nie. "Ich habe das nicht überschaut." Mehr will er jetzt nicht sagen, ohne Geld.

Mutter besucht die Kinder im Heim

Benjamin und seine Geschwister leben nun zusammen in einem Heim. Sie sollen erst mal zur Ruhe kommen. Die Mutter besucht sie. Sie möchte die Kinder zurück. Gegen sie ermittelt die Polizei wegen Verletzung der Fürsorge- und Aufsichtspflicht. Am Ende wird ein Richter entscheiden müssen, ob es zu einem Verfahren kommt. Das Jugendamt will prüfen, ob Gabriele B. in Zukunft für ihre Familie sorgen kann. Auch Ingo S. und der leibliche Vater sollen einbezogen werden. Mit beiden Männern seien Gespräche vereinbart. Ein Versagen des Vaters sieht das Jugendamt nicht.

Vier Tage nach Benjamin und seinen Geschwistern holte die Berliner Polizei zwei Kinder im Alter von vier und zwölf Jahren aus einer völlig verdreckten Wohnung. Am 25. Januar fand die Polizei sechs Kinder in einer vermüllten Wohnung in Reinickendorf, am 8. Januar wurden in Berlin-Marzahn sechs Kinder in Obhut genommen, die zwischen Abfällen und toten Fliegen lebten.

Benjamin wollte die Familie retten

Nach zweijähriger Anlaufzeit hat der Berliner Senat jetzt eine Kinderschutz-Hotline geschaltet. Zwei der vier dafür vorgesehenen Stellen wurden extern besetzt, die anderen beiden sollten von überzähligen, aber unkündbaren Beamten eingenommen werden. Von den 5000 Mitarbeitern im Stellenpool fand sich niemand, der bereit war, diese Arbeit zu machen. 20 qualifizierte Beamte wurden zum Vorstellungsgespräch eingeladen, die Hälfte erschien nicht, nur eine einzige erklärte, sie könne sich vorstellen zu überlegen, ob sie bereit wäre, Schichtdienst zu machen. Sie sagte ab, man suchte weiter. Im schlimmsten Fall werden Benjamin und seine Geschwister jetzt getrennt. Im schlimmsten Fall tritt ein, was Benjamin versuchte zu verhindern, mit aller Kraft, mit aller Disziplin, mit aller Tapferkeit, mit allem Mut. Er wollte die Familie retten, die Geschwister versorgen, das Leben bestehen - und dass Mama zurückkommt. Im besten Fall dürfen die Kinder zurück nach Hause, zu ihrer Mutter, die sie lieben. Und die im besten Fall begreift, was geschehen ist und was sich ändern muss.

*Name von der Redaktion geändert

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Mitarbeit: Gerhard Richter, Werner Mathes