Religion Wenn die Schule die Kinder verdirbt

"Schamlose Sexualkunde" und "moralisch missratene Mitschüler" - manche tiefgläubige Eltern in Deutschland befürchten einen schlechten Einfluss der Schule auf ihre Kinder und halten diese vom Unterricht fern - Tendenz steigend.

In Deutschlands Schulen werden Kinder nach Ansicht einiger Eltern sexuell verdorben, in ihrem Glauben fehlgeleitet und mit starren Regeln zu sehr unter Druck gesetzt. Diese Eltern wollen ihre Kinder der Schulpflicht entziehen. Oft boykottieren sie das staatliche Bildungswesen aus religiöser Überzeugung oder wegen Widersprüchen zu ihrer Weltanschauung. Vermutlich blieben deshalb derzeit etwa 500 schulpflichtige Kinder in Deutschland dem Klassenraum fern, sagt der Vorsitzende des Vereins Schulunterricht zu Hause, Armin Eckermann. Tendenz steigend.

Neuestes Beispiel für den Kampf gegen die Schulpflicht: In Paderborn hält eine Gruppe von Baptisten ihre 15 Kinder konsequent vom staatlichen Unterricht ab. Selbst Bußgeld-Androhungen haben die Schulgegner bisher nicht beeindruckt.

Unterricht über fremde Religionen nicht geduldet

Die tiefgläubigen Baptisten, überwiegend Aussiedler aus Kasachstan, lehnten den Lehrstoff in Deutschland aus Gewissensgründen ab, sagt der Detmolder Pfarrer und Experte für Weltanschauungsfragen, Claus Wagner. Zwar hielten sie nicht alles an den deutschen Schulen für schlecht, aber bereits der Sexualkundeunterricht sei für sie unerträglich. Auch die Beschäftigung mit Inhalten, die mit fremden Religionen zu tun haben, komme für Baptisten oft nicht Frage. Befürchteten sie doch, dass ihre Kinder dadurch vom rechten christlichen Weg abkämen.

In anderen Religionsgemeinschaften blicken die Eltern ebenfalls skeptisch darauf, was und wie in Klassenräumen unterrichtet wird. So sorgten sich die Muslime in Deutschland immer vernehmlicher darüber, dass es in den Schulen sexuell anzüglich zugehe und die Kinder ihrer islamischen Werte beraubt würden, sagt Islam-Experte Janbernd Oebbecke von der Universität Münster.

Massiven Widerstand gegen die Schulpflicht betreibt auch eine urchristlich orientierte Gruppe namens "Zwölf Stämme" in Bayern. Vor Jahren sind die Eltern dazu übergegangen, 34 Kinder rechtswidrig selbst zu unterrichten. Um den Nachwuchs vor "schamloser Sexualkunde" und "moralisch missratenen Mitschülern" zu bewahren, haben sich sieben Väter sogar schon für einige Tage ins Gefängnis sperren lassen. Die Behörden suchen jetzt verzweifelt nach einem Kompromiss.

"Schulpflicht ist kulturelle Errungenschaft"

Viele Bildungsexperten lehnen diese Schulboykotte ab. "Die Schulpflicht ist eine große kulturelle Errungenschaft und eine Sache der Gerechtigkeit", sagt Ernst Rösner vom Institut für Schulentwicklungsforschung in Dortmund. Was in der Schule gelehrt werde, richte sich nach dem Willen der demokratischen Gesellschaft und könne nicht den Interessen einzelner Eltern unterworfen werden. Auch die Baptisten in Deutschland distanzierten sich mittlerweile von dem Verhalten der Familien in Paderborn, sagt Pastor Friedrich Schneider vom Bund der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Die Rechtslage ist eindeutig: Ein juristischer Ausweg aus der Schulpflicht ist aus religiösen Gründen unmöglich. So hat das Oberlandesgericht in Frankfurt einem bibeltreuen Ehepaar aus Hessen im Juli 2004 verboten, seine Kinder zu Hause zu unterrichten. Die gleiche Ansicht vertrat ein Verwaltungsgericht in Rheinland-Pfalz wenig später im Fall einer muslimischen Familie. "Es gibt keine rechtliche Möglichkeiten", befindet auch der Schulpflicht-Gegner Eckermann.

Eine Lösung des Problems in Paderborn ist nicht in Sicht. Der Integrationsbeauftragte der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, Klaus Lefringhausen, wolle zunächst das Gespräch mit den Eltern aufnehmen, sagte eine Sprecherin des Schulministeriums. "Zwangsmaßnahmen kommen für uns erst dann in Frage, wenn alle Gesprächsangebote und Gesprächsversuche gescheitert sind."

DPA
Marco Mierke und Elmar Stephan/DPA