Sahra Wagenknecht im stern Von Goethe bekehrt, von der Politik gerettet

Der "Faust" brachte sie zum Kommunismus, sie war einsam und verzweifelt, die Politik rettete ihr Leben. Sahra Wagenknecht rast im stern-Interview durch ihr 40-jähriges Leben und verdeutlicht erneut: Sie ist nicht wie die anderen in der Politik.

Sie habe in den vergangenen Jahren viel gelernt, verkündet Sahra Wagenknecht, sich "fundiert mit moderner Ökonomie beschäftigt". Denn, so das Credo der Kommunistin, der "Schlüssel zu allem ist die Wirtschaft". Aber wie früher hoffe sie immer noch auf "eine soziale und gebildete Gesellschaft", oder, so Wagenknecht, "wie Marx oder Goethe es sagen, auf eine Gesellschaft, in der der Mensch wirklich Mensch sein kann". Wie sie sich diese neue Gesellschaft vorstellt, das erläutert die designierte Linken-Vizechefin im neuen stern - überzeugten Kapitalisten gruselt es bei der Lektüre.

Denn Wagenknecht, die im Mai zur stellvertretenden Vorsitzenden der Linken gewählt werden soll, verlangt im stern sowohl einen Börsenumsatz- wie auch eine Millionärssteuer. Die Linke klagt - und fordert: "Wir haben Autos mit Massage in den Sitzen, aber wir sind nicht in der Lage, alte Menschen würdevoll zu betreuen. Das ist doch pervers. Und um das zu verändern, brauchen wir, was Herr Westerwelle garantiert nicht will, eine Umverteilung von Vermögen." Konkret denkt die wirtschaftspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag an eine Steuer von zehn Prozent auf Millionärsvermögen. Für den Fall, dass die Vermögenden dann ins Ausland abwanderten, will sie das mit einer "Wegzugssteuer" bestrafen. Wagenknecht im stern: „Jeder, der gehen will, kann gehen, aber er muss zahlen. Wer hier sein Geld verdient, muss es hier versteuern." Wenn Bürger ins Ausland gingen, "müssen sie ihr Vermögen hierlassen oder hohe Wegzugssteuern bezahlen".

Linker Dauerbrenner Verstaatlichungen

Doch damit nicht genug: Es sei nun auch an der Zeit, so Wagenknecht zum stern, über Verstaatlichungen nachzudenken. "Die Bürger finden den Kapitalismus nicht mehr toll. Sie wissen, dass ein Prozent Rendite mehr zählt, als das Schicksal von 100 oder 1000 Familien. Der Kapitalismus, anders als in den 50er oder 60er Jahren", so Wagenknecht, "verspricht den Leuten keine bessere Zukunft mehr. Er lässt sich keine sozialen Kriterien mehr aufzwingen. Heute zerstört er, was er einst aufgebaut hat." Deshalb sei es nun an der Zeit, "intelligent über öffentliches Eigentum nachzudenken", darum komme die Gesellschaft nicht herum.

Auf die Frage, ob sie nach dem Fall der Mauer in der Gesellschaft des vereinten Deutschlands angekommen sei, antwortet die 40-Jährige etwas zerknirscht: "Warum soll ich ankommen? Ich hätte nach der Wende natürlich in die CDU oder die SPD gehen und dort Karriere machen können, die suchten ja händeringend nach Leuten aus dem Osten. Aber ich wollte mich nicht mit diesen irrsinnigen Verhältnissen abfinden, wo der eine fünf Milliarden besitzt und der andere nicht weiß, wie er menschenwürdig über die Runden kommt."

Lesen Sie das gesamte Interview...

...im neuen stern.

Dass Wagenknecht heute radikalen Marktverfechtern Schrecken einjagt, daran ist kein Geringerer schuld als Johann Wolfgang von Goethe. Sein "Faust" habe sie angestachelt, "den Kapitalismus überwinden zu wollen", er "will eine Gesellschaft, in der Menschen wirklich Mensch sein können". Die junge Wagenknecht war so begeistert von dem Klassiker, dass sie beide "Faust"-Teile - zusammen macht das stolze 12.111 Verse - auswendig gelernt hat. Schließlich stecke im dem Werk "die ganze Menschheitsgeschichte drin". Allerdings hatte sie niemanden, mit dem sie über ihre Lektüre hätte reden können: "Ich war recht einsam. Ich lebte zurückgezogen, hatte wenig Freunde."

Denn schon als Kind sei sie "eigenbrötlerisch" und "ziemlich eigensinnig" gewesen, schildert Wagenknecht im stern. Lust auf den Kindergarten habe sie auch nicht gehabt, stattdessen habe sie ständig gelesen: Weil sie mit der DDR nicht zufrieden war, habe sie als Jugendliche Marx gelesen, "aber um Marx richtig zu verstehen, musste ich Hegel lesen und Kant". Jungs und Diskos hätten sie in der Phase damals nicht groß interessiert, denn Wagenknecht war mit den Themen früh durch: "Das hab’ ich ab 13 gemacht. Als ich 16 war, fand ich dieses Leben schon wieder langweilig."

Viel Angst und keine Perspektive

Kurze Zeit später machte Wagenknecht ihre schwerste Zeit durch. Nach dem Mauerfall gab es immer wieder Augenblicke, in denen sie an Selbstmord dachte: "Ende 1989 wusste ich überhaupt nicht, wie es weitergehen sollte. Ich hatte Angst. Was hatte ich denn? Abitur und sehr viele Bücher gelesen. Aber sonst hatte ich nichts. Kein Geld. Keine Perspektive. Nur das Gefühl, dass das, was um mich abläuft in die falsche Richtung geht. Ich musste jeden Pfennig rumdrehen. Scheiße, warum muss ich in so einer Gesellschaft leben? Ich muss etwas dagegen tun, sonst werde ich wahnsinnig." Die Politik war es, die sie schließlich gerettet hat:"Ich wollte nicht durchdrehen. So kam ich – was alle in meiner Umgebung überraschte, auch mich selbst – zur aktiven Politik."

Von dieser ist die Kommunistin mittlerweile aber sehr ernüchtert. Seit der Bundestagswahl 2009 sitzt die Linke im Parlament - und lässt kein gutes Haar an dem hohen Haus. Bevor sie in den Bundestag kam, hat sie die großen Redner studiert, "alte Parlamentsdebatten durchgelesen – von Erhard über Brandt, Wehner bis zu Hamm-Brücher oder selbst noch Genscher". Das seien noch Persönlichkeiten gewesen, "die verkörperten etwas, die formulierten richtige Sätze, erschöpften sich nicht in Phrasen". Heute lohne es nicht, "sich etwa an Westerwelle abzuarbeiten: Er redet über Menschen, von denen er keine Ahnung hat. Er weiß nicht, wie barbarisch es ist, 40 oder 50 Jahre alt zu sein, von Hartz IV zu leben mit dem Gefühl: Da komm ich nicht mehr raus. Westerwelle: Das ist kein Inhalt, kein Niveau, kein Gedanke, nur ein Satz – Steuern senken!" Wagenknechts Fazit im stern: "Dass das System im Niedergang ist, sieht man auch an der Politikerkaste."

Mehr zum Thema

Newsticker