Eine etwas abgedroschene Weisheit des Journalismus besagt: Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Warum? Weil schlechte Nachrichten wie Warnungen fungieren. Es droht Gefahr, also müssen möglichst viele Menschen so schnell wie möglich davon erfahren, um sich zu schützen.
Aktuelles Beispiel: Friedrich Merz ließ sich zu der Aussage verleiten, dass es tägliche Gruppenvergewaltigungen aus dem "Milieu der Asylbewerber heraus" gebe. Der erste Teil des Satzes ist leider korrekt – es gibt tägliche Gruppenvergewaltigungen in Deutschland – der zweite Teil aber ist nah am Verschwörungsmythos.
Was also sagen die Zahlen? In Bayern, wo man die potenziell Bösen besonders engmaschig observiert, unterscheidet man sehr präzise zwischen der Herkunft der Verdächtigen und ihrem Schutzstatus. So waren im Jahr 2023 von 96 Tatverdächtigen einer Gruppenvergewaltigung gerade einmal 21 aus der Gruppe der Asylbewerber – also nicht einmal ein Viertel.
Das ist zweifellos eine überdurchschnittlich hohe Zahl. Aber sie ist eben nicht so hoch, wie Friedrich Merz suggeriert. Merz stört das nicht. Hauptsache, das Gefühl stimmt. Und nur darum geht es: Er spricht ja auch andauernd davon, die Menschen sollten sich wieder sicher fühlen. Schön wäre ja, sie würden auch sicherer sein.
Und in diesem kleinen Sprachunterschied steckt vielleicht das große Problem: Die Formulierung sicherer fühlen ist beabsichtigt. Die tragikomische Pointe heute besteht darin, dass wir sicherer schon sind, uns aber zugleich unsicherer fühlen. Jetzt gibt es, zynisch betrachtet, zwei Möglichkeiten: Entweder wir passen die Lage – große Sicherheit – dem Gefühl an. Das würde bedeuten, wir bräuchten dringend mehr Verbrecher, die bereit sind, möglichst schnell möglichst viele Verbrechen zu begehen.
Oder – wenn das nicht geht, weil die kriminell Hochqualifizierten lieber in andere Länder gehen – dann bräuchte es noch mehr Populisten, die wenigstens so tun als ob diejenigen, die nicht kommen wollen oder können, doch schon da seien. Die gute Nachricht ist: Letzteres klappt gerade ganz gut. Alternativ müssten wir das Gefühl der Lage anpassen. Das verhindern erfolgreich Merz und Freunde. Sie können sich zum Heilsbringer eines Landes stilisieren, das ohne sie dem Untergang geweiht wäre.
Zu simpel, nur Populisten die Verantwortung zuzuschieben
Die Lage gestaltet sich nach Lage der Dinge nun so: Tatsächlich ist Deutschland eines der sichersten Länder der Welt, und die Kriminalität geht stark zurück, wie ein Blick in die Statistik zeigt: In den 1990er-Jahren gab es, gemessen an der Tatsache, dass es weniger Menschen in Deutschland gab, mehr Straftaten.

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Im internationalen Vergleich ist Deutschland eines der sichersten Länder. Die höchste Gefangenenrate etwa haben die USA. Dort gibt es 629 Inhaftierte pro 100.000 Einwohner. In den Jahren zwischen 1979 und 2009 stieg die Zahl der Gefangenen dort um sagenhafte 700 Prozent. Deutschland führt mit einer Rate von 70 das letzte Viertel an. Noch weniger Gefangene haben nur Schweden, Norwegen und Finnland.
Nun wäre es zu simpel, nur Populisten die Verantwortung für diese Misere zuzuschieben. Warum also sind Statistiken so wertlos, obwohl ihre Daten uns doch besser schlafen ließen? Der US-Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman ging davon aus, dass es bei jedem Menschen zwei kognitive Systeme gibt.
System eins arbeitet schnell und intuitiv, macht aber viele Fehler. System zwei arbeitet langsam und rational, ist aber aufwendiger, da es mehr Energie frisst. Das sorgt dafür, dass System eins meist gewinnt. Es sorgt dafür, dass ein Opfer einer Messerattacke uns mehr zu Herzen geht, als 1000 Tote in einem Krieg am anderen Ende der Welt. Zu dem einen Opfer gibt es eine Geschichte, die System eins mit unseren eigenen Erfahrungen abgleicht. System eins ist darum mitfühlend und warm, aber fehlerhaft. System zwei ist rational und kühl, dafür aber korrekter und, da es abwägt, auch gerechter.
Kritik trifft uns härter, als ein Lob uns freut
Was Kahneman und Kollegen auch zeigen konnten: Die Ängste des Menschen sind meist größer als seine Hoffnungen. Hundert Euro, die wir verlieren, schmerzen uns mehr, als uns hundert Euro freuen, die wir gewinnen. Kritik trifft uns härter, als ein Lob uns freut. Eine schlechte Erfahrung erzählen wir mehr Menschen als eine gute. Das bedeutet: Wir sind für alles, was negativ ist, stärker empfänglich, weil wir dafür sensibilisiert sind.
Evolutionsbiologisch formuliert: Die Gefahr ist immer höher zu bewerten als die Chance. Die Gefahr kann tödlich enden und unser Leben verkürzen, die Chance wird unser Leben vielleicht schöner machen – es aber wahrscheinlich nicht verlängern.
Psychologen nennen das Verlustaversion, also Risikoscheu. Wenn nun diese anthropologische Konstante auf eine Zeit trifft, die zweifellos unvorhersehbarer und verlustbehafteter ist als die Vergangenheit; eine Zeit, die vermittelt, dass wir alle eher mehr verzichten müssen und eher Wohlstand verlieren als gewinnen werden? Dann sind wir bei einer toxischen Mixtur, bei der die Versprechen einer Politik der Emotionen wesentlich verlustreicher sein können als die Verluste, vor denen sie zu schützen vorgibt.