Valérie Giscard d'Estaing Monsieur Europa

Von Astrid Mayer
Valérie Giscard d'Estaing war der jüngste Präsident, den Frankreich je hatte. Er regierte von 1974 bis 1981 - war bei seinen Landsmännern aber nie wirklich populär. Denn d'Estaing galt als launischer Aristokrat. Und er engagierte sich für den Geschmack der Franzosen viel zu sehr - für Europa.

Es ist ihm nach seiner Abwahl als französischer Präsident nicht viel anderes übrig geblieben, als sich in die Europa-Politik zu stürzen, denn innenpolitisch war Valérie Giscard d'Estaing 1981 am Ende. Aber es war für ihn nicht nur ein Notnagel, sondern entsprach tiefster Überzeugung. So jung (mit 48) Giscard d'Estaing Präsident geworden war - der Rekord ist noch ungebrochen - er hatte noch im zweiten Weltkrieg gekämpft und die mörderischen Konsequenzen von zwischenstaatlichen Konflikten aus erster Hand erfahren.

So bedingungslos europäisch wie Valérie Giscard d'Estaing hat nie ein französischer Präsident vor oder nach ihm gedacht. In einem Land, das sich nach wie vor für eine Großmacht hält, stolz ist auf seine "Force de Frappe" (die Atombombe) und darauf, dass man überall in der Welt französisch spricht, ist eine solche Haltung keineswegs sehr verbreitet. Und so unpopulär sie zeitweise war: Giscard, wie er kurz genannt wurde, war kompromisslos Europäer.

Kampf für straffreie Abtreibung

Innenpolitisch war er glücklos. Während seiner Regierungszeit 1974 bis 1981 brachte die Ölkrise die Arbeitslosenzahlen zum Explodieren. Aber Europa verdankt ihm viel: Ein stabiles Währungssystem, das mit der sogenannten Währungsschlange begann (einem System aus festen Wechselkursen) und das Europa-Parlament, dessen Einrichtung und Direktwahl er vorantrieb. Das Hand-in-Hand-Stehen von Mitterand und Willi Brandt mag in aller Köpfe sein, wenn es um Völkerversöhnung geht, aber bei der Schaffung der europäischen Institutionen war Giscard d'Estaing Pionier.

Der frühere Staatspräsident hat bei den Franzosen einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen - richtig populär war er nie. Er hat ihnen in seiner Regierungszeit lange ersehnte Rechte beschert: Das auf straffreien Schwangerschaftsabbruch, auf Scheidung ohne Schuldprinzip und auf Volljährigkeit mit 18. Aber er hat sich mit aristokratischem Gehabe unbeliebt gemacht und mit seine Launen Mitarbeiter und Freunde verprellt - mit ein Grund, warum er innenpolitisch nach seiner Niederlage gegen Mitterand so völlig kalt gestellt wurde.

Blaues Blut in den Adern

Valérie Giscard d'Estaing wurde 1926 in eine Familie geboren, in der man schon immer Politik gemacht hatte. Und die sich etwas darauf zugute hielt, von Ludwig XV. abzustammen - über eine uneheliche Tochter von ihm. So "erbte" Giscard d'Estaing schon mit 30 sein Mandat als Abgeordneter des Puy de Dome (in der Auvergne, einer mitten in Frankreich gelegenen Gebirgsregion). Schon sein Großvater und sein Urgroßvater hatten die Gegend im französischen Parlament vertreten.

Seinen Aufstieg in höhere Staatsämter verdankt er, wie unter französischen Politikern üblich, seiner Ausbildung an der Eliteschule Ena, wo Seilschaften entstehen, die ein Leben lang tragen. Zunächst war er Finanzinspektor (mit ähnlichen Aufgaben wie ein Beamter des Bundesrechnungshofes). Mit 29 Jahren wurde er Mitarbeiter des damaligen Finanzministers Edgar Faure, und war 1962 dann selbst Finanzminister. Zu dieser Zeit gründete er auch eine eigene, liberale Partei, die explizit europafreundlich war. Giscard unterstützte 1963 den Anschluss von Großbritannien an die EU.

Giscard d'Estaings Stolz auf die königliche Abstammung kam erst während seiner Präsidentschaft durch und nahm gelegentlich groteske Ausmaße an. Dass er eitel war, hat er selbst eingeräumt. Ins Elysée hielten mit ihm neue Sitten Einzug: Bei Essen musste stets der Präsident zuerst bedient werden, niemand durfte sitzen, während er stand. Wenn er sich von einem Raum in den nächsten begab, eilte ein Herold voraus und kündigte ihn an mit einem "Monsieur le Président de la République" an.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Keine diskredierenden Fotos

Die präsidialen Sitten haben sich geändert - niemals hätte sich Giscard d'Estaing im Trainingsanzug an der Öffentlichkeit sehen lassen. Von den zahlreichen Affären, die er während seiner Amtszeit hatte - er galt als Verführer - wurde keine ruchbar. Bloß die Macht über die Presse ist die Gleiche geblieben: Giscard d'Estaing sorgte dafür, dass Fotos von ihm unveröffentlicht blieben, auf denen er nicht würdig genug aussah - wie beispielsweise, als die Bevölkerung Neu-Kaledoniens den Präsidenten nach Landessitte liegend und mit Blumenketten eingedeckt durch die Menge trug.

Zuletzt war Giscard d'Estaing in der Auvergne, seiner Heimat, engagiert. Er hat die Gründung eines Naturparks initiiert, und war Vorsitzender der Betreibergesellschaft. 1994 hat er noch den obligatorischen Roman geschrieben, wie das jeder französische Politiker mit intellektuellem Anspruch tut. Er wurde denn auch 2003 in die Akadémie Française gewählt, die Gemeinschaft von Franzosen mit erlesenem Sprachgefühl.

Es war Valérie Giscard d'Estaing, der 1990 die Ausarbeitung der europäischen Verfassung anstieß. Ausgerechnet seine Landsleute haben sein Lebenswerk durch ein Volksbegehren zu Fall gebracht, in dem 54 Prozent der Franzosen gegen die Verfassung stimmten. Es beendete jäh Giscards Traum von den Vereinigten Staaten Europas.