Von der Leyen will Chip einführen Gleiche Bildungschancen für alle

Wer als Schulkind im Berliner Bezirk Neukölln mit schlechten Noten nach Hause kommt, muss mit seinem Problem meist alleine fertig werden. Eltern können oft nicht helfen, es fehlt an Wissen oder Zeit.

Wer als Schulkind im Berliner Bezirk Neukölln mit schlechten Noten nach Hause kommt, muss mit seinem Problem meist alleine fertig werden. Eltern können oft nicht helfen, es fehlt an Wissen oder Zeit. Noch häufiger scheitert Hilfe aus einem anderen Grund: In einem Bezirk, in dem die Arbeitslosenquote an der 20-Prozent-Marke kratzt und fast drei Viertel der Kinder und Jugendlichen als arm gelten, ist in den meisten Haushalten schlicht kein Geld da für teure Nachhilfestunden.

Im Sommer 2007, als die Politik zwar noch nicht über den sogenannten Bildungschip, wohl aber über Bildungsgerechtigkeit diskutierte, ergriff Susanne Nadapdap die Initiative. Mit Freunden gründete die Erziehungswissenschaftlerin im Berliner Problemkiez Neukölln ihren Verein "Blickwinkel". Seitdem öffnen die 34-Jährige und 25 weitere Ehrenamtliche an fünf Nachmittagen in der Woche ihre Tür, um mit Jugendlichen die Hausaufgaben zu machen.

Rund 50 Kinder und Jugendliche kommen regelmäßig in die Sonnenallee 64. Die Monatsgebühr ist vergleichsweise gering: Wer an drei Tagen in der Woche je zwei Stunden gemeinsam mit Susanne Nadapdap und ihren Kollegen büffelt, zahlt im Monat 30 Euro. Wer jede Woche fünf Mal kommt, zahlt 45 Euro.

45 Euro für 40 Stunden Nachhilfe - ein Schnäppchen, berechnen die meisten Nachhilfeanbieter doch gut 20 Euro pro Stunde. Doch mehr als die Hälfte der Eltern, die ihre Kinder in den "Blickwinkel" schicken, leben von Hartz IV.

"Trotzdem zahlen sie den Beitrag gern für ihre Kinder", wirft Nadapdap sofort ein. Klar komme es mal vor, dass das Geld nicht pünktlich gezahlt werde. Oder auch mal einen Monat lang gar nichts komme. "Aber diese Eltern sparen sich das notfalls ab", versichert Nadapdap. Darum halte sie nichts davon, Hartz-IV-Empfänger unter Generalverdacht zu stellen.

Wie das in Zukunft laufen soll, wenn die Kinder, wie von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen geplant, mit einer Chipkarte bezahlen sollen, kann sich die 34-Jährige überhaupt noch nicht vorstellen. Ihre größte Sorge ist ganz praktischer Natur: Sie frage sich, woher ihr Verein eigentlich das Geld für ein teures Lesegerät nehmen soll.

Mit Problemen, die die Einführung des Bildungschips mit sich bringen könnte, will sich der Bürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky, nicht aufhalten. All die Karten, die man im Portemonnaie mit sich herumtrage, könnten ja schließlich auch "in jeder kleinen Boutique, in jeder Pizzeria und Tankstelle" benutzt werden. Das müsse doch auch mit Bildungschips funktionieren, sagt Buschkowsky.

Der SPD-Politiker sieht in der neuen Chipkarte einen Paradigmenwechsel. Dahinter stecke eine grundsätzlich neue Förderphilosophie: weg vom Geldtransfer, hin zur Sachleistung. Oder in Buschkowskys Worten: "Weg von der Umwegfinanzierung über die Eltern nach dem Prinzip Hoffnung". Angesichts der damit verbundenen Vorteile über Bürokratiekosten zu diskutieren, sei kleinkariert, sagt der Neuköllner Bürgermeister.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Der Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Wolfgang Stadler, dagegen warnt vor Bürokratiekosten in Millionenhöhe und einem "unverhältnismäßig hohen" Technikaufwand. Stadlers Kritik an den Ideen aus dem Bundesarbeitsministerium ist grundsätzlicher Art: Eltern würden unter Generalverdacht gestellt, Kinder stigmatisiert, Sachbearbeiter in Jobcentern mit zusätzlichen Aufgaben überfordert, zählt er auf. Der AWO-Vorsitzende plädiert dafür, zunächst die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder neu zu berechnen. Erst dann sollte nach geeigneten Lösungen gesucht werden.

Auf so manchem Neuköllner Fußballplatz kann man die Aufregung über den geplanten Bildungschip nicht ganz verstehen. 400 Kinder und Jugendliche kicken im Verein "Grün Weiß Neukölln". Elf Euro kostet das jeden Monat. Wer Hartz-IV beziehe, erklärt Jugendleiter Helge Kapheim, müsse den Betrag aber gar nicht selbst zahlen, denn der Landessportbund springe in diesen Fällen ein. Man müsse nur einen Antrag stellen, erklärt er. Klingt einfach.

Doch auch ein simpler Antrag stellt manchmal offenbar eine zu hohe Hürde dar. Fragt man Kapheim, wie viele Kinder auf den Zuschuss angewiesen sind, rechnet er vor: "Momentan bekommen ihn zehn. Der Bedarf kann aber deutlich höher sein. Viele wollen das einfach nicht zugeben."

APN
Viktoria Schiller, APN